Predigt zum 25. Sonntag im Jahreskreis (B)
am 23. September 2012
Evangelium: Mk. 9, 30 - 37
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Anregungen zu dieser Predigt aus dem Jesusbuch von Hans Küng, dessen entsprechende Kapitel auch zur vertiefenden Lektüre empfohlen seien: Hans Küng, "Jesus", Verlag Piper.
Schon sehr früh ziehen sich über Jesus von Nazareth
und über dem kleinen Kreis Seiner Jünger
düstere Wolken zusammen.
Bereits am vergangenen Sonntag haben wir im Evangelium
eine erste Ankündigung Seines Leidens
aus Jesu Mund gehört.
Nur kurze Zeit später greift Er diese düstere Ahnung
im Gespräch mit Seinen Jüngern wieder auf.
Wir haben Seine Worte soeben gehört.

Spontan haben wir wenig Verständnis
für das, was sich da zusammenbraut:
Jesus verkündet eine frohmachende Botschaft;
Er heilt Kranke, wendet sich Menschen in Not liebevoll zu
und lebt also jene Liebe, nach der wir uns alle sehnen.
Die einfachen Menschen scheinen das zu spüren
und strömen zusammen, wo immer Er auftaucht.
Das weiß natürlich auch Jesus selbst.
Er dankt dafür dem Vater im Himmel:
„Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde,
weil du all das den Weisen und Klugen verborgen,
den Unmündigen aber offenbart hast.“ (Mt. 11, 25)

Problematisch sind also die „Weisen und Klugen“.
Wer sind sie und worüber regen sie sich so sehr auf,
daß sie schließlich „beschlossen, Jesus mit List
in ihre Gewalt zu bringen und ihn zu töten“? (Mt. 26, 4)
Genannt werden in den Evangelien immer wieder
die „Pharisäer und Schriftgelehrten“;
gemeint sind damit jedoch ganz viele
in der Thora bewanderten und oft auch ‚frommen‘ Juden.
Ihnen ging es um eine strikt konservative Auslegung
des Gesetzes und damit letztlich um die Bewahrung
des überlieferten religiös-politischen Systems –
und das gerade unter den schwierigen Bedingungen
römischer Oberhoheit.

Dieser Jesus war ihnen sehr bald schon ein Dorn im Auge –
nicht wegen dieser oder jener
in ihren Augen problematischen Aussage.
Vielmehr sahen sie in Seiner ganzen Person
und in der Souveräntät und auch Radikalität,
mit der Er sich über ‚geheiligte‘ Traditionen hinwegsetzte,
eine tödliche Gefahr für das religiöse und politische System:

∙    Er untergrub dessen Fundamente,
wenn Er z.B. verkündete,
das Gesetz sei für den Menschen da
und nicht umgekehrt der Mensch für das Gesetz.
∙    Er verunsicherte ganze Volk
und zumal die traditionell Frommen,
indem Er den Untergang des Tempels prophezeite
und überhaupt den Tempelkult relativierte.
∙    Er brachte die moralische Ordnung durcheinander,
indem Er Gesetzlose und sogar Gesetzesbrecher
in Seine Gefolgschaft aufnahm.
∙    Mehr noch: Er lästerte Gott.
Schließlich gewährte Er kraft eigener Autorität
die Vergebung von Sünde und Gesetzlosigkeit.
Damit griff Er fraglos in Gottes ureigenste Rechte ein.
∙    Unerhört ist
– wenn wir ehrlich sind, bis auf den heutigen Tag –
mit welcher Radikalität und Kompromißlosigkeit
Jesus menschliche Vergebung
und sogar Feindesliebe einforderte.
∙    Und daß Er als Vorbild für die Nächstenliebe,
wie Er sie verstand,
ausgerechnet einen religiös häretischen
und politisch separatistischen Samaritaner wählte,
das war regelrecht aufreizend.

Kurz und gut: Mit dem, was Er sagte oder tat,
provozierte Er die rechtmäßige Autorität.
So verführte Er zu deren Kritik und Ablehnung
oder gar zur Rebellion gegen die etablierte Hierarchie.
Das alles verwirrte nicht nur das ‚einfache Volk‘,
sondern konnte ganz schnell umschlagen
in gefährliche Unruhen, Demonstrationen
oder gar in einen Volksaufstand
und damit in den ständig zu befürchtenden großen Konflikt
mit der Besatzungsarmee.

Insgesamt also ist dieser Jesus
in den Augen des religiösen und politischen Establishments
eine tödliche Gefahr für das Volk und also ein Volksfeind,
der auf jeden Fall unschädlich gemacht werden muß.

Nun geht es im heutigen Evangelium
nicht nur um das konsequenterweise drohende Ende.
Unmittelbar im Anschluß an die Leidensvorhersage Jesu
folgt ein sehr aufschlußreicher Dialog Jesu
mit Seinem engsten Jüngerkreis.
Da wird sofort deutlich:
Nicht nur das religiöse und politische Establishment
ist fassungslos angesichts der Botschaft Jesu.
Vielmehr ist diese Botschaft auch für Seine besten Freunde
nicht nachvollziehbar –
und zwar letztlich aus den gleichen Gründen:
Sie alle sind in einer ganz und gar anderen Denkweise
und Tradition groß geworden.

Konkret steht hier das tief sitzende
und scheinbar unausrottbare hierarchische Denken zur Debatte.
„Wer von uns ist der Größte?“ 
Darüber hatten sie gesprochen
und mußten sich von Jesus belehren lassen:
„Wer der Erste sein will,
soll der letzte von allen und der Diener aller sein.“
Aber sie können diese radikale Umkehr
der ihnen vertrauten zwischenmenschlichen Ordnung
partout nicht verstehen.
Zwei von ihnen
- die sogenannten Donnersöhne Jakobus und Johannes -
schicken wenig später noch einmal ihre Mutter vor:
„Versprich, dass meine beiden Söhne in deinem Reich
rechts und links neben dir sitzen dürfen.“ (Mt. 20, 21)

An anderer Stelle geht es um die Vergebung:
Petrus hatte Probleme damit und fragte:
„Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben,
wenn er sich gegen mich versündigt? Siebenmal?
Jesus sagte zu ihm: Nicht siebenmal,
sondern siebenundsiebzigmal.“ (Mt. 18, 21 f)

Und noch einmal Petrus:
Die Kompromißlosigkeit Jesu ist ihm
auch nach einer langen Zeit der Nachfolge
restlos unverständlich geblieben:
Auf die erste Andeutung Jesu von Seinem Leiden
reagiert Petrus ungehalten und vorwurfsvoll.
Damit handelte er sich eine scharfe Zurückweisung Jesu ein:
„Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen!
Denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will,
sondern was die Menschen wollen.“ (Mk. 8, 33)

Nicht nur die „Pharisäer und Schriftgelehrten“
haben also Probleme mit diesem Jesus;
Probleme haben vielmehr auch Seine Jünger –
damals so gut wie auch heute.
Viele von uns nehmen z.B immer wieder Ärgernis
am hierarchischen Denken der Kirche Jesu Christi.
Das wird ja um keinen Deut besser
durch die liturgische Fußwaschung am Gründonnerstag.
Aber kehren wir besser vor der eigenen Tür:
Unsere ganze Leistungsgesellschaft ist durch und durch
von diesem hierarchischen Denken verseucht,
und wir alle stehen mehr oder weniger mitten drin.
Bis in unseren privaten Bereich verfolgt uns
die Frage der Jünger: „Wer von uns ist der Größte?“

Oder nehmen Sie das Problem der Vergebung
oder gar der Feinesliebe:
Wollen Sie und können Sie überhaupt
z.B. jenen Terroristen und Selbstmordattentätern vergeben,
die rücksichtslos Unschuldige töten
und sogar den Tod von Kindern einkalkulieren?
Aber auch hier die Frage:
Wie steht es um Vergebung in unserem privaten Bereich?
In der Familie etwa?
Oder bei Menschen, die einmal unsere Freunde waren?

Christsein - das bedeutet auch heute
ein radikales Umdenken!
Ein so radikales Umsteuern aber schien
den ‚Pharisäern und Schriftgelehrten‘ damals,
höchst gefährlich zu sein;
uns heute erscheint es schlicht als unmöglich.
Und das ist sogar richtig!
In der ‚alten‘ Wirklichkeit dieser Welt
ist es fürwahr unmöglich.

Jesus jedoch lebt ganz und gar auf die neue Wirklichkeit
des Reiches Gottes hin.
Auch darauf fehlt im Evangelium heute
keineswegs der Hinweis:
„Drei Tage nach seinem Tod
wird der Menschensohn auferstehen.“
Mit Ostern ist diese neue Wirklichkeit definitiv angebrochen!
Auch wenn die Vollendung noch aussteht,
gelten für Christen spätestens ab Ostern
die Lebensregeln und Orientierungen des Gottesreiches.
Unsere Sendung als Christen
und erst recht als christliche Kirche ist es,
dessen neue Wirklichkeit mitten in der alten
sichtbar und erfahrbar zu machen.
Und das ist im Blick auf Ostern möglich –
mögen wir im Einzelfall auch immer wieder daran scheitern.

Amen.