Predigt zum 27. Sonntag im Jahreskreis (B)
am 7. Oktober 2012
Lesung: Gen. 2, 18 - 24
Evangelium: Mk. 10, 2 - 16
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Es gibt gewisse Themen,
die sind in allen Kulturen und zu allen Zeiten aktuell.
Dazu gehört auf jeden Fall das Thema der heutigen Lesungen,
das Thema “Ehe und Ehescheidung”.

In der Zeit meines Lebens, die ich überblicke,
haben sich in unserem eigenen gesellschaftlichen Umfeld
die Auffassungen dazu und die gelebte Praxis
in einem vor etwa fünfzig Jahren noch unvorstellbarem Maße
verändert:

Für viele ist an die Stelle der Ehe eine Lebenspartnerschaft getreten,
vielfach sogar eine Art ‘Lebensabschnitts-Partnerschaft’.
Zwar steht der Wunsch nach einer lebenslangen Beziehung in Liebe
auch bei den meisten jungen Paaren nach wie vor hoch im Kurs;
aber wenn’s dann hart auf hart kommt,
dominiert doch in sehr vielen Fällen das eigene ‘Glück’,
bzw. das, was man dafür hält.

Die Gründe dafür sind sicher sehr vielfältig
und nicht ohne weiteres auf einen Nenner zu bringen.
Dennoch ganz kurz einige Stichworte dazu:
∙    An erster Stelle steht vermutlich
    ein zunehmend individualistisches Denken und Fühlen:
    Mehr und mehr steht der Einzelne im Vordergrund
    und seine / ihre Selbstverwirklichung, bzw. Lebenserfüllung.
∙    Sodann hat die Großfamilie noch weiter an Bedeutung verloren:
    Jedes junge Paar ist mehr oder weniger auf sich allein gestellt.
∙    Verschärft wird diese Situation ganz konkret
    durch die Bedingungen des Arbeitsmarktes
    und durch dessen Anforderungen
    an die Mobilität eines jeden Einzelnen.
    (Beispiel: Wohnort Göttingen als ‘Mitte’
    zwischen ihrem Arbeitsplatz in München
    und seinem Arbeitsplatz in Hamburg.)
∙    Natürlich spielt auch eine Rolle
    das veränderte Rollenverständnis von Mann und Frau,
    und zumal die selbstverständliche Berufstätigkeit beider.

Auf diese Situation reagiert die Kirche wenig flexibel.
Ein wesentlicher Grund dafür
ist das kirchliche Denken in Kategorien des ‘Gesetzes’.
Jesus hatte in Seiner Auseinandersetzung mit den Pharisäern
gerade dieses Gesetzesdenken sehr kritisch hinterfragt.
Denken Sie nur an Seine These
“Das Gesetz ist für den Menschen da
und nicht der Mensch für das Gesetz!”
Dann aber hielt durch den Einfluß des römischen Rechtssystems
genau diese juridische Denkweise Einzug in die Kirche Jesu Christi,
vor allem in die katholischen Kirche.

Schon im ‘Gesetz’ des Alten Testaments
ging es nicht wirklich um den Buchstaben des Gesetzes,
sondern vielmehr um dessen Geist.
In diesem Sinne wurde die Thora als Weisung Gottes verstanden.
Jesus hat dann - vor allem in der Bergpredigt - diese Sicht vertieft,
und damit auch nicht den kleinsten Buchstaben
des Gesetzes aufgehoben,
sondern aufgezeigt, wie es ‘im Geiste’ erfüllt werden kann.
Wie wenig es möglich (und sinnvoll) ist,
den Zusammenhalt einer gescheiterten Ehe
mit dem Knüppel des Gesetzes zu erzwingen,
zeigen die Erfahrungen nahezu eines jeden von uns
in der eigenen Familie und im eigenen Freundeskreis.

Auch das Evangelium heute sollten wir also
durch die Brille der Bergpredigt Jesu lesen!
Dort ist ja ebenfalls von der Ehescheidung die Rede,
und zwar mit überaus deutlichen, ja sogar harten Worten -
aber eben nicht mit Worten,
die wir ummünzen sollten in Gesetzesparagraphen.

Sehen wir also einfach mal vom Kirchenrecht ab
und fragen uns,
warum Jesus so massiv für die Ehe eintritt,
und wie die Vorstellungen Jesu
auch in unserer Zeit gelebt werden können.

Der Hintergrund der Worte Jesu
ist Seine Erfahrung der grenzenlose Liebe des Vaters.
Diese Liebe verkörpert Er selbst.
Diese Liebe lebt Er.
Diese Liebe verkündet Er
und versucht, die Menschen dafür zu gewinnen.

Nicht von ungefähr greift Jesus auf den Schöpfungsbericht zurück.
Eine der Kernaussagen dieses Schöpfungsberichtes
ist das Schöpferwort:
“Laßt uns Menschen machen als unser Abbild,
uns ähnlich.” (Gen. 1, 26)
Als Abbild der göttlichen Liebe also sind wir erschaffen.
Deshalb ist es “nicht gut, daß der Mensch allein bleibt”.
Deshalb hat Gott ihn als Mann und Frau erschaffen.
Deshalb werden sie in ihrer Liebe zueinander “ein Fleisch”.
“Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins.”
Deshalb gehören sie für immer zusammen!
Wegen der Liebe also,
die unendlich viel mehr ist als ein augenblickliches Gefühl,
mehr als ein Verliebtsein ineinander,
mehr als all das, worauf unsere Medien
und - in deren Gefolge - unser eigenes Bewußtsein
die Liebe zurechtgestutzt haben.
Wegen der Liebe also ist für Jesus die Ehe so wichtig.

An der Liebe Gottes dürfen und sollen wir Maß nehmen!
“Ihr sollt also vollkommen sein,
wie es auch euer himmlischer Vater ist,” sagt Jesus. (Mt. 5, 48)
Ein ungeheurer Anspruch - fürwahr!
Aber er muß doch einzulösen sein, wenn Jesus ihn einfordert.
Mehr noch: Wenn ich Jesus richtig verstehe, meint Er doch,
nur so würden wir wirklich ganz und gar Mensch,
ganz und gar wir selbst sein;
nur so also könnten wir wahrhaft glücklich sein.
Anders ausgedrückt:
Nur so könnten wir uns wirklich selbst verwirklichen.

Wie ist das möglich bei unseren ach so begrenzten Möglichkeiten?
Wir sind Menschen unterwegs zum Menschsein!
Da bedarf es der Pflege gerade der Liebe,
die uns erst wahrhaft zu Menschen macht.
Mit der Pflege aber verhält es sich wie mit der Pflege von Blumen:
Versäumen wir deren Pflege für einige Tage,
lassen sie ihre Köpfe hängen;
versäumen wir die Pflege für Wochen,
gehen sie ein.
So also will die Liebe gepflegt sein - Tag für Tag!
Damit wir nicht eines Morgens wach werden -
und entdecken: Da ist keine Liebe mehr!

Und wenn’s doch so weit kommt?
Dann fällt mir dazu
der 1000-jährige Rosenstock am Dom zu Hildesheim ein:
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs
wurde er - wie der Dom - zerstört.
Da war keine Hoffnung mehr - tot!
Im ersten Frühjahr nach dem Krieg jedoch trieb er wieder aus.
Für die Menschen in Hildesheim war das ein ‘Wunder’,
ein Geschenk des Himmels.
Es schenkte ihnen mitten im Zusammenbruch
neue Hoffnung und den Mut, aufzubrechen in ein neues Leben.

Ich bin fest überzeugt,
auch eine Liebe, die ‘tot’ zu sein scheint,
kann neu treiben - wenn wir die Bedingungen dafür schaffen
und ‘dem Wunder die Hand hinhalten’,
daß es sich darauf niederlassen kann wie ein schöner Schmetterling.
Gott ist treu!
Er wird uns gerade im Ringen um die Liebe nicht im Stich lassen.

Leider bringen viele Menschen heute
dieses rückhaltlose Vertrauen in die Treue Gottes nicht auf.
So werfen sie die Flinte ins Korn -
oft schon wenn die ersten Steine im Wege liegen.
Hier und da mag dann die Liebe eines Paares
nach menschlichem Ermessen wirklich unheilbar zerbrechen.

Was dann?
Die drei großen christlichen Kirchen
sind gemeinsam und in gleicher Selbstverständlichkeit überzeugt:
Das Ja der Liebe ist unwiderruflich!
Gemeinsam sind sie auch überzeugt:
Wenn Liebe dennoch scheitert,
geschieht das nicht wie ein ‘blinder Schicksalsschlag’.
Vielmehr ist der Grund solchen Scheiterns menschliche Schuld -
in der Regel auf beiden Seiten.
Unterschiedliche Wege gehen die Kirchen erst
bei ihrem Umgang mit Scheitern und Schuld.
∙    Viele evangelische Kirchen
    gehen vorbehaltlos den Weg der Barmherzigkeit:
    Sie ermöglichen ohne Wenn und Aber eine neue Ehe,
    weil sie auch dem schuldig Gewordenen
    eine neue Chance und neues Glück nicht verweigern möchten.
∙    Auch die orthodoxen Kirchen gehen den Weg der Barmherzigkeit,
     fordern jedoch vor einer zweiten Ehe
    (nach traditioneller Sprechweise) eine ‘Bußzeit’.
    Man könnte auch sagen:
    Sie erwartet eine Zeit der Reflexion:
    Woran ist die Liebe meiner ersten Ehe gescheitert?
    Was habe ich selbst falsch gemacht?
    Was lerne ich daraus für einen Neubeginn?
∙    Die katholische Kirche dagegen
    macht aus der gemeinsamen christlichen Überzeugung
    von der unwiderruflichen Liebe ein Gesetz.
    Da ist dann notfalls zwar eine Trennung möglich,
    nicht aber eine zweite Ehe,
    weil die erste fortbesteht, bis der Tod sie scheidet.

Wir erleben im Augenblick,
wie schwer sich unsere Bischöfe tun,
über diesen Schatten zu springen,
obwohl es ihnen sicher nicht am guten Willen dazu fehlt.
Vielleicht hilft es, sich bewußt zu machen,
daß es nicht nur um die - zugegebenermaßen schuldhaft -
zerbrochene Liebe einer gescheiterten Ehe geht,
sondern auch um unsere Liebe als Kirche
jedem Menschen gegenüber
und eben auch demjenigen gegenüber,
der in einer Ehe gescheitert ist.

Jesu Liebe gilt uns allen - und das obwohl wir Sünder sind
und immer wieder scheitern.
Das Problem ist die juristische Fiktion der bestehenden Ehe,
obwohl sie heillos zerrüttet ist.
Es ist in meinen Augen nur schwer nachvollziehbar,
daß Gottes liebende Barmherzigkeit uns zwingt,
an dieser Fiktion auf Biegen und Brechen festzuhalten.
Der ‘mittlere Weg’ der Orthodoxie
scheint mir sinnvoll und hilfreich zu sein.
Auch in dieser Frage sollten wir uns an Jesu Maxime orientieren:
Das Gesetz ist für den Menschen da
und nicht der Mensch für das Gesetz.

Amen.