Predigt zum 3. Sonntag im Jahreskreis C
am 27. Januar 2013
Lesung: Neh. 8, 2-4a.5-6.8-10
Evangelium: Lk. 4, 14-21
Autor: P. Heribert Graab S.J.
Können Sie sich vorstellen,
irgend jemand käme heute auf die Idee,
das Bürgerliche oder auch das kirchliche Gesetzbuch
oder auch nur Abschnitte daraus
auf einem öffentlichen Platz vorzulesen?
Wenn aber dennoch einer diese verrückte Idee hätte -
können Sie sich vorstellen,
es würde auch nur ein einziger stehen bleiben, um zuzuhören?
Nach unserem heutigen Verständnis ist also dieser Priester Esra,
über dessen Vorleseaktion die Lesung berichtet,
total ‘durchgeknallt’.
Aber die Menschen strömen in Massen zusammen,
stundenlang lauschen sie auf die Worte der Weisung Gottes,
und schließlich feiern sie gar ein großes Fest.

Um das verstehen zu können,
∙    müssen wir zunächst noch einmal einen Blick darauf werfen,
    was “Gesetz” - biblisch gesprochen - bedeutet.
∙    Außerdem sollten wir ein wenig
    über die konkrete geschichtliche Situation wissen,
    in der diese erstaunliche Szene unserer Lesung spielt.
∙    Dann können wir uns auch noch das Evangelium näher anschauen,
    das ja in der Regel
    mit der alttestamentlichen Lesung korrespondiert.
∙    Und schließlich ergeben sich wahrscheinlich
    aus dem so gewonnenen Verständnis
    auch konkrete Hilfen für unseren Glauben heute.

1)    Wenn im biblischen Sinn von ‘Gesetz’ die Rede ist, geht es nicht
um einen Dschungel von Vorschriften und Paragraphen!
Das ‘Gesetz’ des alten Israel ist zusammengefaßt in der ‘Tora’,
also in den fünf Büchern des Mose.
Die Tora umfaßt Lehre, Weisung, Gesetz,
Gesetzes-Erzählungen, Weisheit, Mahnreden
und nicht zuletzt die frohe Botschaft
vom ‘Bund’ Gottes mit Seinem Volk,
von der Befreiung dieses Volkes aus dem ‘Sklavenhaus Ägypten’
und von dem Weg Gottes mit Seinem Volk durch die Wüste.

Heilsbotschaft und Weisung Gottes bilden eine Einheit.
Gebote und Mahnungen haben den Sinn,
die geschenkte Freiheit zu bewahren
und die enge Beziehung des Volkes zu Gott zu schützen.
Die Tora ist also ‘frohe Botschaft’, Geschenk Gottes an Sein Volk
und Wegweisung zugleich.

Allein dieses umfassende biblische Verständnis von ‘Gesetz’
macht es uns schon um einiges leichter zu verstehen,
was sich da auf dem ‘Platz vor dem Wassertor’ in Jerusalem abspielt.

2)    Werfen wir nun noch einen Blick
auf den geschichtlichen Hintergrund des geschilderten Ereignisses:
Die Szene spielt einige Zeit nach dem babylonischen Exil Israels.
Im Jahre 538 v.Chr. hatte der Perserkönig Kyros durch einen Erlaß
den verbannten Judäern die Erlaubnis erteilt,
nach Jerusalem heimzukehren
und Stadt und Tempel wieder aufzubauen.
So etwas geht nicht von heute auf morgen,
und zudem zeigt sich schon bald:
Der äußere Wiederaufbau muß Hand in Hand gehen
mit dem inneren Wiederaufbau
und der Erneuerung des Gemeinwesens.
Da ein solcher Prozeß erst recht langwierig
und das Leben in der alten Heimat sehr mühsam ist,
machte sich mehr und mehr Enttäuschung
und eine depressive Stimmung breit.

In dieser Krisensituation tritt nun der Priester Esra auf.
Esra war scheint’s eine organisatorisch,
vor allem aber eine charismatisch begabte Persönlichkeit.
Zudem konnte er mit der Autorität des Perserkönigs auftreten,
denn der hatte ihn nach Jerusalem gesandt mit dem Auftrag,
gerade den inneren Wiederaufbau der Jerusalemer Gemeinde
im Sinne der mosaischen Traditionen voranzubringen.
Außerdem brachte er eine zweite ‘Welle’ von Heimkehrern 
mit in die Heimat.
Das mag ihm persönlich Sympathien eingebracht haben.
Jedenfalls flammte endlich wieder Hoffnung auf.
So strömten die Menschen in Scharen zusammen in der Erwartung, neue Impulse für die Gestaltung
einer gelingenden Zukunft zu erhalten.
Esra selbst las einfach das ‘Gesetz’,
also die Lebensweisung Gottes vor.
Und aus dem Text und aus der lebendigen Art seines Vortrags
wurde den Versammelten schnell klar:
Das genau ist’s! Daraus können wir leben lernen!

3)    Nun schauen wir uns noch das Evangelium an:
Da kommt nämlich noch eine ganz neue Dimension ins Spiel.
Schon die Lesung legte die Vermutung nahe,
daß das begeisterte Hören auf das ‘Gesetz’
(nicht nur, aber auch) einen ganz wesentlichen Grund hatte
in der überzeugenden und mitreißenden Persönlichkeit des Esra.
Im heutigen Evangelium ist nun auch die Rede davon,
daß dieser Jesus die Menschen begeisterte,
weil Er erfüllt war von der ‘Kraft des Geistes’,
daß sich deshalb „die Kunde von Ihm
in der ganzen Gegend verbreitete“,
und daß Er „von allen gepriesen wurde“.
Das entscheidend Neue ist jedoch:
Er kann sagen „Heute hat sich das Schriftwort,
das ihr eben gehört habt, erfüllt.“
Es hat sich erfüllt in Ihm selbst, in Seinem Erscheinen!
Das Schriftwort jedoch,
das Er zuvor aus dem Propheten Jesaja vorgelesen hat,
ist nichts anderes als eine komprimierte Zusammenfassung
der Heilsbotschaft und der Wegweisung des ‚Gesetzes‘.
In Jesus also hat sich das’Gesetz‘,
ja - die Offenbarung Gottes insgesamt erfüllt.
Da wird der Anfang des Johannesevangeliums konkret greifbar:
“Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott,
und das Wort war Gott…
Und das Wort ist Fleisch geworden
und hat unter uns gewohnt.“ (Joh. 1, 1 und 14)

Die Botschaft des Evangeliums geht also noch einmal
weit über die Botschaft der Lesung hinaus.
Die Botschaft der Lesung war:
Das ‚Gesetz‘ ist nicht ein Sammelsurium von Vorschriften,
sondern befreiende Botschaft und Gottes Wegweisung
in die ganz konkrete Situation
einer deprimierenden Orientierungslosigkeit hinein.
Das Evangelium sagt uns:
Gottes befreiendes und wegweisendes Wort
hat Fleisch und Blut angenommen
und begegnet uns in Jesus Christus ‚live‘.

Da können wir auch die Bergpredigt Jesu
noch einmal ganz neu verstehen:
Etwa dieses „Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzuheben,
sondern um es zu erfüllen.“
Oder „Ihr habt gehört…, Ich aber sage euch…“.
In Jesus ist das ‚Gesetz‘ lebendig.
Die Buchstaben des Gesetzes allein sind tot.
Der Geist des Gesetzes jedoch
offenbart sich in diesem Jesus, dem Christus.
Sich an Ihm zu orientieren, erschließt uns gelingendes Leben;
in Seiner Nachfolge und in Seiner Gemeinschaft
finden wir den wahren Grund zu Fest und Freude,
die Motivation, immer wieder ein „festliches Mahl“ zu feiern
und sogar „süßen Wein“ zu trinken:
„Macht euch keine Sorgen;
Denn die Freude am Herrn ist eure Stärke.“

Wir denken und sagen gerne – auch in der Kirche:
„Was ich schwarz auf weiß besitze,
kann ich getrost nach Hause tragen.“
Daraus resultiert zu allen Zeiten und auch heute ein Glaube,
wie ihn Jesus an den Schriftgelehrten
und Pharisäern Seiner Zeit kritisiert –
eben ein Buchstabenglaube,
der sich auf Dogmen und Katechismen stützt,
und der sich an Paragraphen und Canones orientiert.

Wo jedoch das ‚Fleisch‘ gewordene Wort Gottes
und damit das wahrhaft menschlich gewordene ‚Gesetz‘
unseren Glauben bestimmt,
dominiert Freude unser Leben –
selbst dann, wenn diese Welt und selbst die Kirche in dieser Welt
uns immer wieder das Kreuz auf die Schulter packt.
Nicht von ungefähr sagt Jesus:
„Wenn sie mich verfolgt haben,
werden sie auch euch verfolgen.“ (Joh. 15, 20)
Aber selbst diese Erfahrung kann jene Freude nicht zerstören,
die in der Nachfolge Jesu ihre Wurzel hat.

Amen.