Predigt zum 3. Sonntag im Jahreskreis C
am 27. Januar 2019
Lesung: Neh. 8, 2-4a.5-6.8-10
Evangelium:  Lk. 1, 1-4; 4, 14-21
Autor: P. Heribert Graab SJ
Können Sie sich vorstellen,
irgend jemand käme heute auf die Idee,
das Bürgerliche oder auch das kirchliche Gesetzbuch
oder auch nur Abschnitte daraus
auf einem öffentlichen Platz vorzulesen?
Wenn aber dennoch einer diese verrückte Idee hätte -
können Sie sich vorstellen,
es würde auch nur ein einziger stehen bleiben, um zuzuhören?
Nach unserem heutigen Verständnis ist also dieser Priester Esra,
über dessen Vorleseaktion die Lesung berichtet,
total ‘durchgeknallt’.
Aber die Menschen strömen in Massen zusammen,
stundenlang lauschen sie auf die Worte der Weisung Gottes,
und schließlich feiern sie gar ein großes Fest.

Einige, wenige Stichworte zum Verständnis dieses alten Berichtes:

1.    Wenn im biblischen Sinn von ‘Gesetz’ die Rede ist,
geht es nicht um Vorschriften und Paragraphen!
Die Tora Israels umfaßt Lehre, Weisung, Gesetz,
Gesetzes-Erzählungen, Weisheit, Mahnreden
und nicht zuletzt die frohe Botschaft
vom ‘Bund’ Gottes mit Seinem Volk,
von der Befreiung dieses Volkes aus dem ‘Sklavenhaus Ägypten’
und von dem Weg Gottes mit Seinem Volk durch die Wüste.
Heilsbotschaft und Weisung Gottes bilden eine Einheit.
Die Tora ist also ‘frohe Botschaft’, Geschenk Gottes an Sein Volk
und Wegweisung zugleich.

2. Zweitens hilft der geschichtlichen Hintergrund zum Verständnis:
Die Szene spielt einige Zeit nach dem babylonischen Exil Israels.
Der Perserkönig Kyros hatte den verbannten Judäern erlaubt,
nach Jerusalem heimzukehren.
Sie fanden nur noch die Trümmer ihrer zerstörten Heimat vor.
Wiederaufbau aber geht nicht von heute auf morgen -
zumal wenn der äußere Wiederaufbau Hand in Hand gehen muß
mit dem inneren Wiederaufbau
und der Erneuerung des Gemeinwesens.
So machte sich mehr und mehr Enttäuschung
und eine depressive Stimmung breit.

In dieser Krisensituation tritt nun der charismatische Priester Esra auf,
und die Menschen strömten in Scharen zusammen
in der Erwartung, neue Impulse für die Gestaltung
einer gelingenden Zukunft zu erhalten.
Esra selbst las einfach die ‘Tora’,
also die Lebensweisung Gottes vor.
Und aus dem Text und aus der lebendigen Art seines Vortrags
wurde den Versammelten schnell klar:
Das genau ist’s! Daraus können wir leben lernen!

Diese geschilderte Szene aus dem Buch Nehemia
macht es für uns nachvollziehbar,
daß zunächst die jüdische Religion,
dann aber auch Christentum und Islam
als „Buch-Religionen“ bezeichnet werden -
als Religionen also, deren eigentlicher Kern eine Heilige Schrift ist.

Auf den ersten Blick scheint das wirklich
auch für unseren christlichen Glauben zuzutreffen:
Die schriftlich niedergelegte Grundlage unseres Glaubens
ist die Heilige Schrift des „Alten“ und des „Neuen“ Testaments,
zumal das Evangelium, die frohe Botschaft Jesu Christi.
Auch der Textausschnitt des heutigen Evangeliums
scheint das zu bestätigen:
Jesus selbst wählt zu Beginn Seines öffentlichen Wirkens
sozusagen als „Schlagzeile“ für das, was Ihm zu sagen wichtig ist,
ein Zitat aus dem Buch des Propheten Jesaja:
„Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt.
Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe;
damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde
und den Blinden das Augenlicht;
damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze.
und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“

Dann jedoch fügt Er ein eigenes Wort an,
das die Rede vom Christentum als einer Buchreligion in Frage stellt.
Er sagt:
„Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.“
Anders ausgedrückt:
Die Buchstaben der Heiligen Schrift
sind durch mich lebendige Wirklichkeit geworden.
Ihr erlebt so etwas wie eine Zeitenwende;
es beginnt eine neue Wirklichkeit:
Das Reich Gottes, das die Propheten verheißen haben,
hat in diesem Augenblick und mitten unter Euch real begonnen.
Wenn ich Kranke heile
und durch den Gottes Geist Dämonen austreibe,
dann ist das Reich Gottes schon zu euch gekommen. (cf. Mt. 12, 28)

Bei aller Bedeutung, die die Heilige Schrift für unseren Glauben hat -
der eigentliche Kern und das Wesen christlichen Glaubens
ist nicht dieses „Buch“, sondern Jesus Christus
als lebendige Person mit Hand und Fuß,
in der Gott selbst Mensch geworden ist,
durch die diese Welt begonnen hat, neue Schöpfung zu werden.

Genau in diesem Sinne relativiert das Johannesevangelium
gleich zu Beginn in seinen ersten Versen
die Rede vom Christentum als Buchreligion:
„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott,
und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. 
Alles ist durch das Wort geworden,
und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. 
In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen…
Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt,
und wir haben seine Herrlichkeit gesehen,
die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater,
voll Gnade und Wahrheit.“ (Joh. 1, 1-4.14)

Das Evangelium sagt uns also:
Gottes befreiendes und wegweisendes Wort,
das uns in der Heiligen Schrift überliefert ist,
hat Fleisch und Blut angenommen
und begegnet uns in Jesus Christus ‚live‘.

Wir denken und sagen gerne – auch in der Kirche:
„Was ich schwarz auf weiß besitze,
kann ich getrost nach Hause tragen.“
Daraus resultiert zu allen Zeiten und auch heute ein Glaube,
wie ihn Jesus an den Schriftgelehrten
und Pharisäern Seiner Zeit kritisiert –
eben ein Buchstabenglaube,
der sich auf Dogmen und Katechismen stützt,
und der sich an Paragraphen und Canones orientiert.

Unser christlicher Glaube ist erst ein lebendiger Glaube,
wenn Jesus Christus selbst in uns lebt,
und wenn wir mehr und mehr mit Ihm eins werden.
Dazu hilft uns natürlich, täglich in der Heiligen Schrift zu lesen,
und uns immer wieder in das Evangelium Jesu Christi zu vertiefen.
Aber nicht weniger wichtig ist es,
Seine Nähe im Gebet zu suchen
und uns in der Eucharistie mit Ihm zu vereinigen.

Darüber hinaus begegnet Er uns in konkreten Menschen:
Indem wir z.B. Notleidenden zur Seite stehen,
verbindet uns Seine Liebe mit ihnen und mit Ihm selbst.
Und indem wir uns an Menschen orientieren,
die durch und durch von Seiner Liebe geprägt sind,
werden wir selbst mehr und mehr Christus-förmig.
Das ist der Sinn von Heiligen-Verehrung in der katholischen Kirche.
Aber es lohnt sich darüber hinaus, die Augen offen zu halten,
um die „Heiligen“ unserer Tage
und auch unserer eigenen Umgebung zu entdecken.
In ihnen lebt Christus heute Sein Leben,
mit dem Er auch uns anstecken möchte.

Amen.