Erste Fastenpredigt am 11. März 2000
zum EXPO-Thema "Mensch - Natur - Technik":
Kaum je hat das Thema einer Weltausstellung so sehr auch die christlichen Kirchen animiert, sich selbst und ihre Botschaft einzubringen. Da geht es selbstverständlich zunächst um die biblische Schöpfungstheologie, die einen wesentlichen Beitrag leisten kann. Dementsprechend lautet das Thema der ersten Fastenpredigt: "Gottes Schöpfung - Kosmologie und Theologie".
Das Leit-Thema der EXPO 2000 lautet:
„Mensch - Natur - Technik".
Dieses Thema ist faszinierend
und fordert uns als Christen heraus,
unseren Beitrag dazu zu leisten.

• Da geht es schlicht um Gottes Schöpfung
und damit auch um die Frage,
wie wir mit dieser Schöpfung umgehen.

• Da geht es um die Frage,
wer der „Herr" der Schöpfung ist,
und wer also die Maßstäbe setzt
für die Ausgestaltung von Welt und Kosmos.

• Da geht es um den Menschen
und um das Bild, das wir vom Menschen haben.

• Da geht es um die Würde des Menschen
und um den Stellenwert, den diese Menschenwürde
in einer weitgehend technisierten und automatisierten Welt hat.

• Da geht es auch um die kritische Frage,
ob die EXPO selbst ihr Thema 
in der durch die Formulierung vorgegebenen Wertung
praktisch umsetzt,
oder ob sie der naheliegenden Versuchung erliegt,
das Thema auf den Kopf zu stellen 
und damit die Technik an die erste Stelle zu setzen.

• Da geht es insgesamt also um die Frage
unserer Visionen für das dritte Jahrtausend.

Das Thema der EXPO 2000 ist also der Grund dafür,
daß christliche Kirchen sich niemals zuvor
so intensiv für eine Weltausstellung engagiert haben.
Seit langem gestaltet zwar der Vatikan einen eigenen Pavillon
für die großen Weltausstellungen;
Nach Montreal gibt es jedoch erst zum zweiten Mal
einen ökumenischen Pavillon.
Der entsteht in Hannover an ganz zentraler Stelle,
nämlich an der „Plaza" des EXPO-Geländes.
Zeichen der Hoffnung für die Jugend der Welt
möchte der Pavillon des CVJM setzen.
Unter den weltweiten dezentralen Projekten der EXPO
präsentieren viele kirchliche Gruppen Zukunftsmodelle:
u.a. Misereor, Brot für die Welt und Kolping.

Die Reihe unserer Fastenpredigten dieses Jahres
wird ebenfalls eine Auseinandersetzung sein
mit den Zukunftsvisionen und Gestaltungsideen,
zu denen das EXPO-Thema herausfordert.
Und da geht es zunächst um unsere Welt als Schöpfung Gottes.
Diese Welt so zu sehen - das ist ja keineswegs selbstverständlich.
Die Naturwissenschaften kommen ohne Gott aus.
Und Frau Meier von nebenan meint:
Der biblischen Erzählung von der Erschaffung der Welt
kann man doch heute nicht mehr glauben.
Die Sache mit den sechs Tagen 
- und am siebten Tag ruhte Gott -
daß das Mumpitz ist,
weiß doch heute jedes Kind.

Nun hat es ja fürwahr regelrechte Feindschaft gegeben
zwischen Theologie und Naturwissenschaft.
Und auch heute noch gibt es erhebliche Berührungsängste
zwischen diesen beiden Wissenschaften.
Die in Jahrhunderten aufgerichteten Barrieren
sind zahlreich und hoch.
So kommt der Dialog zwischen Naturwissenschaften und Religion
nur mühsam in Gang,
obwohl es auf beiden Seiten enorme Erkenntnisfortschritte gibt,
und damit unter ernsthaften Wissenschaftlern
die Bescheidenheit gewachsen ist:
Die Naturwissenschaft einerseits kann nur behaupten,
was auf Zeit wahr ist - bis zu neuer Erkenntnis.
Der Glaube andererseits kann nur bei der Wahrheit Gottes bleiben,
wenn er sich den Fragen seiner Zeit stellt.

Ich bin heute als gläubiger Theologe in der glücklichen Lage,
voller Bewunderung und Faszination die Forschungsergebnisse 
beispielsweise von Kosmologie und Astronomie zu betrachten.
Was ich da sehe,
stellt meinen Glauben nicht in Frage
und steht auch nicht im Widerspruch
zu den biblischen Texten des Alten und Neuen Testamentes.

Gerade weil mich die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse faszinieren,
und weil ich sagenhaft gespannt bin auf das, 
was da noch alles ans Tageslicht gefördert wird,
wächst zugleich meine Bewunderung 
für die grandiose Schöpfungstheologie der Bibel.

Vor wenigen Wochen entfalteten auf einer Klausurtagung unseres Pfarrgemeinderates
zwei Naturwissenschaftler aus unserer Gemeinde
einige wesentliche Aspekte der heutigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse
über die Entstehung des Kosmos.

Einen einzigen Aspekt möchte ich herausgreifen:
Die für uns unvorstellbaren Zeiträume,
um die es dabei geht.
Was der erste biblische Schöpfungsbericht 
auf einen Zeitraum von sechs Tagen zusammendrängt,
gibt in Wirklichkeit eine Entwicklung von vielen Milliarden Jahren wieder.
Das Faszinierendste daran:
Mit modernsten Teleskopen ist es heute möglich,
unvorstellbar weit in die Vergangenheit zu blicken
und bei der Entstehungsgeschichte des Kosmos sozusagen zuzuschauen.
Kosmische Entwicklungen, die sich vor etlichen Milliarden Jahren abgespielt haben,
sehen wir mit unseren technisch perfektionierten Augen so,
als ob sie sich heute ereigneten,
einfach weil das Licht aus diesen unendlichen Entfernungen
Milliarden von Jahren braucht,
bis es bei uns ankommt.
Auf diese Weise träumen Naturwissenschaftler davon,
ganz nahe heranzukommen an jenen Beginn der Schöpfung,
den sie in einem „Urknall" vor etwa 15 Milliarden Jahren sehen.

Wenigstens eine vage Vorstellung von den unermeßlichen Zeiträumen,
in denen sich die Entstehung der Erde im Weltall abspielte,
geben einige Zahlen:
Etwa vor 4,5 Milliarden Jahren entstanden die Planeten.
Seit etwa 9 Milliarden Jahren leuchtet unsere Sonne.
Unsere Milchstraße ist etwa 11 Milliarden Jahre alt.
Und die Entstehung des Kosmos durch den „Urknall" 
dürfte etwa 15 Milliarden Jahre zurückliegen.
Seit rund 2,7 Milliarden Jahren gibt es primitives Leben auf der Erde.
Der „Mensche dagegen ist gerade mal 500.000 Jahre alt.

Auf Grund komplizierter Berechnungen
wagen Naturwissenschaftler heute auch Aussagen
über die Zukunft der Erde, unseres Sonnensystems und des gesamten Kosmos:
Das Leben auf der Erde hat noch knappt 1 Milliarde Jahre vor sich.
In 6 Milliarden Jahren wird die sonne „sterben".
In 10^12 Jahren werden alle Sterne verlöschen.
In 10^15 Jahren wird das Universum erkaltet sein.
Und schließlich zerfällt alle Materie in etwa 1098 Jahren.
Und damit endet auch die Zeit.

Die gesamte Entwicklungsgeschichte des Kosmos
vom „Urknall" bis zum Ende des Universums
läßt sich hypothetisch in einem zyklischen Modell darstellen:
Die Kurve beginnt und endet jeweils im „Nichts"

Dieses Modell stimmt unter wesentlichen Gesichtspunkten
mit dem biblischen Schöpfungsverständnis überein:
• Der Kosmos - alle Materie und damit auch die Zeit -
haben einen Anfang - biblisch gesprochen: „aus dem Nichts".
• Der Kosmos - alle Materie und damit die Zeit -
vergehen wieder - ebenfalls „ins Nichts".
• Die Zeit des Kosmos und damit auch unsere Zeit ist also begrenzt -
theologisch gesprochen:
auch die Zeit ist „erschaffen" und „kontingent". 
Gottes Ewigkeit, in die hinein wir mit Christus „auferweckt" werden,
bedeutet nicht „unendliche Zeit", 
sondern steht der Zeit als das radikal andere gegenüber.
Damit entzieht sie sich den Naturwissenschaften als Forschungsgegenstand.

Viele Menschen unserer Tage
tun den biblischen Schöpfungsbericht
allein deshalb schon als „Unsinn" ab,
weil sie sich an der Diskrepanz
zwischen den wissenschaftlichen Zeitberechnungen
und dem biblischen Sechstagewerk stoßen.
Ihnen sei empfohlen,
im Zweiten Petrusbrief des Neuen Testamentes nachzulesen:
„Das eine aber dürft ihr nicht übersehen:
daß beim Herrn ein Tag wie tausend Jahre
und tausend Jahre wie ein Tag sind". (2. Petr. 3, 8)

Diesen Text und eine ähnliche Aussage des Psalms 90 
hätte übrigens auch die Kirche schon vor Augen haben können
und bedenken müssen,
als sie selbst noch die biblischen Schöpfungsberichte
im Wort-für-Wort-Sinn als Entstehungsgeschichte des Kosmos interpretierte. 

Ich möchte Sie nun einladen,
mit mir die biblische Schöpfungstheologie 
ein wenig genauer zu betrachten.

Ihnen allen ist insbesondere der erste Schöpfungsbericht vertraut,
der gleich am Anfang aller biblischen Erzählungen steht.
Noch zur Zeit des Kopernikus oder des Galilei
war man in der Kirche und durchgängig auch in der Gesellschaft
fatalerweise der Auffassung,
es handele sich dabei um einen naturgeschichtlichen Bericht.

Leider hat vor allem die Kirche Jahrhunderte gebraucht,
sich von dieser folgenschweren Fehleinschätzung zu lösen.
Nichts hat ihrer Glaubwürdigkeit so sehr Abbruch getan
wie gerade dieser Irrtum
und die Verbohrtheit, mit der man sich an ihn geklammert hat.

Erst die moderne Bibelwissenschaft
konnte deutlich machen:
Dieser Schöpfungsbericht hat mit unserem heutigen Verständnis
von Naturwissenschaft und Naturgeschichte nichts, aber auch gar nichts zu tun.
Da geben naturgeschichtliche Vorstellungen alter Zeiten
allenfalls den zeitgebundenen Hintergrund ab
für zutiefst religiöse Aussagen
und für eine Deutung 
gegenwärtiger Erfahrungen der Menschen damals 
mit der Natur aus dem Glauben.
Und dieses religiöse Bekenntnis
ist gekleidet in eine poetische Bildersprache,
die diesen Text auch heute noch 
als einen der Höhepunkte der Weltliteratur ausweist.

Um welche inhaltlichen Aussagen aber geht es
in dieser Schöpfungslegende?
Einige seien genannt:

• Diese Welt ist nicht das Produkt blinder Zufälle,
sondern das Werk eines liebenden Schöpfergottes.

• Dieser Schöpfergott bändigt das Chaos
und ist dem Kosmos verpflichtet.

• Sonne, Mond und Sterne sind „Lampen" am Himmel - nicht mehr und nicht weniger.
Sie werden also verdinglicht und entzaubert:
Dieser Schöpfungsbericht tut also einen ersten, sehr frühen Schritt
„moderner" Entmythologisierung und Aufklärung. 

• Gottes Schöpfung ist ein Entwicklungsprozeß in der Zeit.
Und in diesen Prozeß sind wir als Menschen mitverantwortlich eingebunden.

• Der Mensch hat eine Sonderstellung in der Schöpfung:
Mag er auch das Ergebnis einer langen Entwicklung alles Lebendigen sein,
ist er doch geschaffen als Gottes Abbild.
Daraus resultiert seine einmalige Würde.
Diese Würde kommt allen Menschen zu
innerhalb und außerhalb des Gottesvolkes.
Sie ist unabhängig von Völkern, Rassen und Klassen,
unabhängig auch von der Geschlechtszugehörigkeit.

• Der Mensch ist Gottes Abbild als Mann und als Frau!
Beiden ist die gleiche Würde eigen.
Diese grundlegende Erkenntnis jeder Emanzipation
hat die patriarchalische Menschheit bis heute nicht ganz nachvollzogen.
Und auch die Kirche hinkt ihr immer noch hinterher.

• Mißverstanden bis auf den heutigen Tag 
hat die Menschheit - einschließlich der Kirche -
den Gottesauftrag, unterwerft euch die Erde 
und herrscht über die Schöpfung. 
Unterdrückung und Ausbeutung der Natur
gehen nicht zuletzt auf dieses Mißverständnis zurück.
Damals jedoch, als der Text entstand,
erfuhren Menschen die Natur 
als eine furchterregende, lebensbedrohende und numinose Macht,
der sie hoffnungslos ausgeliefert waren.
Daß der Mensch dieses Verhältnis zur Natur 
einmal umkehren könnte, war unvorstellbar. 
Den biblischen Autoren ging es in dieser Situation darum,
einen Beitrag zu leisten 
zur Befreiung des Menschen aus der Übermacht der Natur.

Heute dagegen sind die Verhältnisse sozusagen auf den Kopf gestellt:
Die Natur ist in hohem Maße durch den Menschen bedroht.
Biblisch gesprochen soll das Verhältnis zwischen Natur und Mensch
vergleichbar sein dem Verhältnis eines Herrn zu seinem untergeordneten Knecht:
Der schuldet seinem Herrn zwar Gehorsam,
darf von diesem aber umgekehrt
nicht ausgebeutet und ohne fürsorgenden Schutz gelassen werden.
So gesehen lautet Gottes Herrschaftsauftrag:
gestaltet die Erde, verändern sie, 
macht sie bewohnbar und fruchtbar,
schont sie zugleich fürsorglich
und wirkt so verantwortlich mit am Schöpfungsprozeß.

• Übrigens unterscheidet dieser Schöpfungsbericht sehr deutlich
zwischen „den Boden unterwerfen"
und „herrschen über die Tiere"!
Das „Herrschen über die Tiere" ist eher zu verstehen
als ein Leiten und Hegen aller Tiergattungen.
Insbesondere fällt auf
- und das ist heute für viele Menschen hochaktuell:
Dieser Schöpfungsbericht weist Menschen und Tieren gleichermaßen
nur die Pflanzen als Nahrung zu.
Er begründet also eine ausschließlich vegetarische Speiseordnung.
Zumal die Tiere sind also keineswegs 
menschlicher Willkür freigegeben.
Die vegetarische Speiseordnung wird in der Bibel
erst später - sozusagen „zähneknirschend" - aufgehoben:
Und zwar nach der Sintflut
als eine Art widerstrebender Konzession 
an die Gewaltbereitschaft,
die sich unter den Menschen breit gemacht hat. 

Soweit also die theologischen Aussagen
des ersten biblischen Schöpfungsberichtes.
Es gibt in der Bibel jedoch mehrere Schöpfungsberichte.
Der zweite ist älter. 
Sie kennen ihn ebenso gut wie den ersten:
Es handelt sich um die Erzählung
von der Erschaffung des Adam aus dem Erdboden („adama") 
und der Eva aus der Rippe des Adam.
Selbstverständlich waren auch die Autoren dieses Textes
nicht so naiv anzunehmen,
Gott habe wie ein Kind im Sand gespielt
und Figuren geformt.
Vielmehr geht es auch hier um eine poetische Bildersprache,
die die vorgefundene Wirklichkeit theologisch deutet.

• Da geht es also zunächst darum,
daß der Mensch ein Teil der materiellen Wirklichkeit ist,
daß er von der Erde genommen ist und zur Erde zurückkehrt.
Auf dem Hintergrund dieses Schöpfungsberichtes
ist es heute nur noch schwer nachzuvollziehen,
warum sich die Kirche 
mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen eines Darwin
so schwer getan hat.

• Sodann geht es auch hier um die Würde des Menschen:
Sie resultiert daraus,
daß Gott dem aus der Materie entstandenen Menschen
göttlichen Lebensatem einhauchte.
Der Mensch hat also zugleich teil
an der materiellen Wirklichkeit dieser Welt
und an der Wirklichkeit Gottes selbst. 

• Auch der zweite Schöpfungsbericht
geht auf den Auftrag Gottes an den Menschen ein:
Hier ist von „Herrschaft" gar nicht erst die Rede;
vielmehr heißt es, der Mensch solle die Erde „bebauen und hegen".
„Adam" hat also der „adama" zu dienen!

• Ein weiterer - ebenfalls hochaktueller - Gedanke dieses Textes ist,
daß der Mensch nicht als „Single" konzipiert ist,
daß er vielmehr ein soziales Wesen ist und sein soll:
„Es ist nicht gut, daß der Mensch allein bleibt!"

• Ja, und dann folgt die berühmte Erschaffung der Eva 
„aus der Rippe des Adam".
Diese Formulierung kennt jeder.
Aber die Deutung liefert die Bibel gleich mit.
Und die ist leider weniger in unserem Bewußtsein.
Der Mensch selbst sagt:
„Das endlich ist Bein von meinem Bein
und Fleisch von meinem Fleisch.
Frau soll sie heißen;
denn sie ist vom Mann genommen."
Leider kann die Übersetzung den hebräischen Urtext
nur unvollkommen wiedergeben:
Im Hebräischen heißt Mann „isch"
und Frau „ischáh".
Es geht also auch hier darum, klar zu machen,
daß Mann und Frau gleichen Wesens und gleicher Würde sind.
Das war in einer Umwelt,
in der die Frau häufig als Sache angesehen
und entsprechend behandelt wurde,
keineswegs selbstverständlich.
Und selbstverständlich ist es ja auch heute leider immer noch nicht.
Die Bibel formuliert also auch in diesem zweiten Schöpfungsbericht
eine grundlegende emanzipatorische Aussage.

• Mehr noch:
In diesem Text hat sich sogar bis auf den heutigen Tag
eine uralte matriarchalische Formulierung erhalten:
„Darum verläßt der Mann Vater und Mutter
und bindet sich an seine Frau."
Noch bis in unsere Zeit hinein war die Praxis ja genau umgekehrt:
Die Frau verließ ihre Familie 
und mußte den Familiennamen des Mannes annehmen.
So gesehen hat die jüngste Namensrechtänderung
eine solide biblische Grundlage.

Ein dritter Schöpfungsbericht - vielleicht der schönste - 
findet sich im Psalm 104
- wir haben ihn als Lesung gehört.
Der ist gekleidet in die literarische Form eines Hymnus auf den Schöpfergott.
Dieser Text ist leider längst nicht so bekannt 
wie die beiden anderen Schöpfungsberichte.
Sie können ihn nachlesen auch im Gotteslob.

• Der Psalm 104 ist wie der erste Schöpfungsbericht
ein entmythologisierender Text.
Da wird etwa ganz nüchtern gesagt:
„Du hast den Mond gemacht als Maß für die Zeiten."

• Die wichtigste theologische Aussage des Psalms ist jedoch:
Die Schöpfung wird verstanden
als ein bis heute fortdauernder Prozeß.
Der Schöpfer wird gepriesen
als der das Leben erhaltende Gott.
Im Blick auf Mensch und Tier heißt es zum Beispiel:
„Sie alle warten auf dich,
daß du ihnen Speise gibst zur rechten Zeit."

• Die Speiseordnung ist auch hier vegetarisch:
„Du läßt Gras wachsen für das Vieh,
auch Pflanzen für den Menschen, die er anbaut,
damit er Brot gewinnt von der Erde
und Wein, der das Herz des Menschen erfreut."

• Mensch und Tier werden durchgängig in einem Atemzug genannt:
Der Mensch wie das Tier sind in gleicher Weise Gottes Geschöpfe
und erfreuen sich gleicherweise seiner fortwährenden Fürsorge.
In einer Zeit, in der wir uns anmaßen, 
von „Tierproduktion" zu sprechen
und dafür rücksichtslose Produktionsmethoden entwickeln,
ist es angebracht, über die Konsequenzen
der Schöpfungstheologie im Psalm 104 nachzudenken.
Nicht von ungefähr dürfte ein Mensch wie Franz von Assisi
für viele, zumal junge Menschen heute 
eine solche Faszination ausüben:
Er hat sich selbst ganz und gar als ein Teil der Natur verstanden
und in den Mitgeschöpfen seine Schwestern und Brüder gesehen. 

• Der Mensch hat - wie gesagt -
im Psalm 104 keine Sonderstellung -
mit einer bemerkenswerten Ausnahme:
Der Mensch allein tritt in der Schöpfung auf 
als „Sünder" und „Frevler".
Sie - die Sünder und Frevler -
liegen in Gottes weise geordneter Welt quer.
Der Psalm schließt mit der lapidaren und unzweideutigen 
Bitte an den Schöpfer:
„Die Sünder sollen von der Erde verschwinden,
und es sollen keine Frevler mehr dasein."

Das ist sehr einfach gesagt;
aber wir Menschen tun uns als Sünder und Frevler
schon schwer mit der Einsicht in das Falsche unseres Tuns,
erst recht tun wir uns schwer mit einer wirklichen Umkehr.
Uns geht es wie Süchtigen,
die erst am Rande der Selbstzerstörung,
die Kraft aufbringen,
ihr Leben neu einzurichten.

So werden wir allenfalls aufgerüttelt 
durch Katastrophen, die die Schöpfung durcheinander bringen:
Der durch unseren ausbeuterischen Umgang mit Tieren
verursachte Rinderwahnsinn ist allerdings 
schon wieder aus den Schlagzeilen verschwunden.
In diesem Winter noch haben wir die Erdrutsche in den Alpen gesehen -
verursacht durch Waldrodungen zur Anlage von Skipisten. 
Im Augenblick erleben wir die schrecklichen Bilder
von katastrophalen Überschwemmungen in Mozambique.
All diese Katastrophen könnten uns einen neuen Umgang mit der Natur lehren.
Schnell jedoch werden sie von der Bilderfülle unserer Medien überlagert.

Alte, nicht so schnellebige Kulturen 
haben die Erinnerung an solche Katastrophen
für viele Generationen
in ihren Mythen und Geschichten gespeichert.
Sie waren für Völker und Geschlechter
eine ständige Mahnung.
Die biblische Sintflutgeschichte ist eine davon.
Sie läßt keinen Zweifel daran,
was die Ursache der Katastrophe war:

Die Schlechtigkeit des Menschen nahm zu,
und alles Sinnen und Trachten seines Herzen war böse,
sagt die Bibel.
Und ganz konkret fügt sie hinzu:
Die Erde war voller Gewalttat.

Gerade weil uns - Juden und Christen -
diese alte Überlieferung anvertraut ist,
ist es um so erschütternder,
daß auch wir gedankenlos und tatenlos
die unzähligen Berichte nur noch konsumieren:
über schrankenlose Gewalt zwischen Menschen und ganzen Völkern,
über Gewalt schon in unseren Schulen und auf den Straßen,
über Gewalt gegen eine wehrlose Natur.

Die Bibel warnt uns.
Aber nicht nur das:
Sie ermutigt auch.
Sie tut das in vielen Visionen von der Vollendung der Schöpfung.
Die Bibel bleibt - allen Katastrophen zum Trotz -
erfüllt von dem Glauben,
daß Gott seine Schöpfung gegen den Menschen verteidigt,
und daß er die ganze Schöpfung und sogar den Menschen selbst
nicht im Stich läßt.

Von der endzeitlichen Aussöhnung zwischen Mensch und Tier
spricht zum Beispiel der Prophet Jesaja:
„Dann wohnt der Wolf beim Lamm,
der Panther liegt beim Böcklein.
Kalb und Löwe weiden zusammen,
ein kleiner Knabe kann sie hüten.
Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter,
das Kind streckt seine Hand
in die Höhle der Schlange.
Man tut nichts Böses mehr
und begeht kein Verbrechen.
Denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn."

Auch Paulus schreibt in seinem Römerbrief
von einer solchen Vision vollendeter Schöpfung:
„Ich bin überzeugt,
daß die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten
im Vergleich zu der Herrlichkeit,
die an uns offenbar werden soll.
Denn die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig 
auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes.
Denn auch die Schöpfung soll von der Sklaverei
und der Verlorenheit befreit werden
zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes."

Wenn wir - wie Paulus das zweifelsohne tut -
auch die „Neue Schöpfung", das „Reich Gottes" also,
das Jesus verkündet,
als eine Wirklichkeit betrachten,
die im Entstehen begriffen ist,
dann spricht Paulus doch in diesem Text
von der weltverändernden Macht der Gemeinde Jesu,
der Gemeinde derer also, 
die durch die Taufe bereits Kinder Gottes sind.
Die Erneuerung also,
die grundsätzlich in der Taufe bereits an uns geschehen ist,
diese Erneuerung also muß durch uns
für die ganze Schöpfung offenbar werden.
So sehr auch die Erneuerung der Schöpfung
Geschenk Gottes ist,
sie ist zugleich doch auch in unsere Mitverantwortung gegeben.

Abschließend noch ein Blick auf die Vision
der Offenbarung des Johannes,
auf das 21. und 22. Kapitel des letzten Buches der Heiligen Schrift.
Vom neuen Himmel und von der neuen Erde
ist dort die Rede
und von der neuen, menschenfreundlichen Stadt Gottes.
In dieser neuen Wirklichkeit Gottes
wird die Schöpfung zur Vollendung kommen:
Dann wird Gott selbst erfahrbar 
in der Mitte seiner Schöpfung wohnen.
Dann wird es keine Tränen mehr geben,
keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal.
Auch der Tod wird nicht mehr sein.
Die Tore der Stadt werden 
Tag und Nacht nicht geschlossen,
denn es wird keine Gewalt mehr geben.
Nichts Unreines wird hineinkommen,
keiner, der Greuel verübt oder lügt. 
Vom Strom des Lebens, der vom „Thron Gottes" ausgeht, 
und von Bäumen des Lebens wird erzählt.
Sie schenken allen Geschöpfen die Fülle des Lebens.
Diese neue Schöpfung
braucht weder Sonne, noch Mond,
denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie.
Auch diese faszinierende Vision
bedient sich jener orientalischen Bildersprache,
durch die schon die ersten Schöpfungsberichte geprägt sind.

Hier schließt sich der Kreis:
Die Erzählungen von Gottes Schöpfung als „Paradies",
die sich auf den ersten Seiten der Bibel finden,
werden wieder aufgegriffen und vollendet
auf den letzten Seiten der Bibel.
Die Zeit, die nach dem naturwissenschaftlichen, zyklischen Modell der Schöpfung
mit dem „Urknall" beginnt 
und im Tod von Materie und Zeit endet,
hat biblisch gesprochen ihren Anfang in Gottes Ewigkeit
und ebendort auch ihr Ende,
oder besser gesagt: ihre Vollendung.
 

Zum Thema „Mensch - Natur - Technik" der EXPO 2000
werden auf jeden Fall die Naturwissenschaften
grandiose Beiträge leisten.
Wenn jedoch der Beitrag des christlichen Schöpfungsglaubens fehlt,
bleibt die EXPO ein erbärmlicher Torso.

Amen.