Predigt zum Pfingstfest 2000:
"Spiritualität"
P.Heribert Graab S.J.
Pfingsten feiern wir als Fest des Geistes Gottes.
„Geist"-erfülltes oder „geistliches" Leben nennen wir „Spiritualität".
Pfingsten hat Hochkonjunktur - aber eben nicht als Fest des Gottesgeistes,
sondern als willkommene Gelegenheit,
einen Kurzurlaub im Grünen zu verbringen.

Gleichzeitig jedoch boomt der Markt für „Spiritualität" -
allerdings vor allem außerhalb der Kirche:
im profanen oder pseudoreligiösen Bereich
von New Age über östliche Spiritualität bis hin zur Esoterik.
Es geht dabei um viele Arten vagabundierender Religiosität
und dahinter um die Sehnsucht vieler Menschen,
etwas zu finden, was sinngebend die Tatsachenwelt übergreift.
Offenkundig gelingt es der Kirche nicht,
in unserer oft so geistlosen Welt jene Erfahrung zu vermitteln,
von der Jesus im Evangelium spricht:
„Ich werde euch den Geist der Wahrheit senden",
den Geist, der euch für euer Leben Sinn erschließt,
den Geist, der vom Vater ausgeht.

Das alte griechische Wort „pneumatikos" bedeutet eigentlich:
- vom Geist Jesu Christi erfüllt sein,
- vom Geist Gottes erfüllt sein,
- aus diesem Geiste heraus leben.
Und dieses „Pneumatikos" charakterisiert nach biblischer Tradition
den Christen, der ja eigentlich mit Gottes Geist getauft ist,
also „eingetaucht" ist in Gottes Geist.

Unser Glaube lebt nicht aus sich selbst.
Glaube ist ein Geschenk.
Glaube lebt von den Impulsen des Heiligen Geistes.
Spiritualität meint also die von Gottes Geist gewirkte
konkrete Gestalt unseres persönlichen und gemeinschaftlichen Glaubens.
Und da es um den konkreten, gelebten Glauben geht,
gibt es so viele Spiritualitäten, wie es spirituelle Menschen gibt,
wie es Menschen gibt, die in ihrem Glauben empfänglich sind
für die Impulse des Gottesgeistes.

Zu allen Zeiten haben sich Christen dementsprechend gefragt:
Wie können wir uns öffnen für das Wirken dieses Geistes Gottes?
Wie können wir für Seine Impulse sensibel werden?
Sie haben als Antwort auf diese Fragen
sehr viele Möglichkeiten entdeckt,
sich innerlich bereit zu machen für „geistliche" Erfahrungen.
Auch all diese „Methoden", oder sagen wir besser: „Wege",
die den Menschen öffnen können für das Geschenk des Gottesgeistes,
werden in der Regel „Spiritualität" genannt.

Davon gibt‘s eine ganze Fülle,
die recht vielgestaltig ist 
- je nach Völkern und Kulturen,
- nach Menschentypen und Lebensalter,
- nach Geschlechtern: männlich oder fraulich,
- nach der jeweiligen Mentalität der verschiedenen Zeiten,
- nach konfessionellen Traditionen und Ausprägungen,
- auch entsprechend der mannigfaltigen Differenzierung innerhalb katholischer Vielfalt.

Nur eine kleine Auswahl der unzähligen Möglichkeiten möchte ich nennen:

• Die alten Eremiten und das frühe Mönchtum wählten einen Weg der Nachfolge Christi
im Rückzug von der Welt.

• Für andere wurde vor allem das Eingebundensein in die Gemeinschaft der Kirche wichtig.

• Die Armutsbewegungen des 12. Jahrhunderts,
so auch die „Bettelorden" der Franziskaner und Dominikanrer,
lebten und predigten das Ideal einer „armen Kirche"
in der Nachfolge des armen Christus.

• Wieder andere entschieden sich für den Weg der Askese - bis hin zu rigoristischen Übertreibungen.

• Und immer wieder wurden Innerlichkeit und mystische Erfahrungen 
der Askese entgegengesetzt,
obwohl beides in einer lebendigen Spiritualität zusammengehört.

• Nicht erst heute suchen Frauen nach eigenen Wegen einer ihnen angemessenen Spiritualität:
Bereits die Beginen des 12. und 13. Jahrhunderts waren darum bemüht
oder auch die Klosterfrauen des Klosters Helfta, 
das sich heute wieder zu einem Zentrum geistlichen Lebens entwickelt.
Berühmte Namen: Mechthild von Magdeburg, Gertrud die Große, Mechthild von Hackeborn.

• In der „devotio moderna" ging es ganz einfach um die alltäglichen Tugenden
und um Grundvollzüge geistlichen Lebens: Geistliche Lesung, Gebet und Meditation.
Thomas von Kempen und sein Büchlein von der „Nachfolge Christi" sind heute noch aktuell.

• Bei Ignatius von Loyola geht es um eine Spiritualität mitten in der Welt:
Er geht davon aus, daß es möglich ist, Gott in allen Dingen zu suchen und zu finden.
Ihm geht es darum, für mein persönliches Leben mitten in der Welt
jeweils Gottes Willen für mich zu finden.
Die „Exerzitien" können und sollen dafür eine Hilfe sein.
Ignatius geht es auch um unsere Sendung in die Welt,
um unser Apostolat.

• Vinzenz von Paul legte Wert auf die mitmenschliche, 
soziale und caritative Dimension von Spiritualität.

• Die Bibelbewegung, die liturgische Bewegung oder auch die Gemeinschaft von Taizé
und die Befreiungstheologie setzten eigene Akzente im 20. Jahrhundert.

Eine fast unüberschaubare Fülle spiritueller Wege!
Diese Fülle selbst schon ist ein Hinweis
auf das bunte und vielfältige Wirken des Geistes Gottes in der Kirche.

Nun kommt es darauf an, daß wir für uns selbst den Weg finden,
der für uns ganz persönlich, aber auch für uns als Gemeinde angemessen und hilfreich ist.
Dabei müssen wir die Spannung aushalten
zwischen der Tradition von Glauben und Spiritualität einerseits
und dem aktuellen Wirken des Geistes Gottes heute andererseits.
Es geht darum, die „Zeichen der Zeit" im Licht des überkommenen Glaubens zu deuten.
Anders ausgedrückt:
Es gilt, einen Bruch mit der Botschaft Jesu Christi zu vermeiden.
Ebenso aber dürfen wir uns nicht heutiger Mentalität entfremden.

Grundlage jedweder Spiritualität ist die Botschaft Jesu Christi.
Sich mit dieser Botschaft Jesu ständig aufs neue vertraut zu machen,
sie sozusagen zu verinnerlichen, 
und sie „mitten in der Welt", in unserem Alltag also, zu leben,
ist Voraussetzung für ein Wachsen im Glauben 
und für ein Leben aus dem Geist Gottes.
Zugleich aber müssen wir auf diesem Hintergrund
offen sein für neue persönliche und soziale Geist-Impulse.

Die spirituellen Anregungen, die wir in St.Michael zu geben versuchen,
speisen sich aus vielen Quellen,
insbesondere aber natürlich aus der Spiritualität des Ignatius von Loyola
und deren Entfaltung innerhalb und außerhalb Jesuitenordens.

Ganz zentral ist die Feier unserer Gottesdienste.
Hier feiern wir die Gemeinschaft mit Jesus Christus 
in Seinem Wort und im Sakrament.
Hier erleben wir etwas von Seinem Geist.
Zugleich aber sollen diese Gottesdienste kein Eigenleben führen,
sondern eine Brücke schlagen 
in den persönlichen und gesellschaftlichen Alltag.
Auch Gebet und Meditation in unterschiedlichen Formen
sollen Impulse geben für ein Leben aus dem Glauben mitten in der Welt.
Spiritualität soll keine Hilfe sein, 
die Dinge dieser Welt, das Materielle zu übersteigen,
vielmehr geht es darum, diese Welt und auch das Materielle zu heiligen.
Diese Welt aber heiliger und gottgefälliger zu machen bedeutet, sie menschlicher zu machen.

Jede Spiritualität ist zuerst und vor allem Begegnung mit Jesus Christus.
Diese Begegnung als geistliche Erfahrung aber ist geprägt
durch die erschütternde Gegenwart der Armen und Geringen,
der Kranken und vom Tod Gezeichneten,
der Opfer von Ungerechtigkeit und Gewalt.
Ein zentrales Stichwort kirchlicher Spiritualität ist daher „Option für die Armen".
Durch Gesten der Solidarität können wir das Antlitz Christi
in den Gesichtern der Armen und Notleidenden entdecken.
Glauben und Gerechtigkeit bilden eine Einheit.
Und Spiritualität heißt, diese Einheit zu leben.

Mit Christus leben und Wandeln in Seinem Geist,
der vom Vater ausgeht und zu Ihm hinführt,
heißt also:
Gotteskindschaft und Geschwisterlichkeit
als Einheit zu sehen.
Im Geiste Jesu Christi laßt uns immer tiefer verstehen,
daß Gottesliebe und Nächstenliebe
- wie übrigens wohlverstanden auch Selbstliebe -
letztlich identisch sind.

Amen.