Predigt zum 6. Sonntag in der Osterzeit (C) am 20. Mai 2001
Zur Lesung: Apg. 15, 1-2.22-29; Evangelium: Joh. 14, 23-29; 
Autor: P:Heribert Graab S.J.
Am vergangenen Sonntag lautete die zentrale Botschaft des Evangeliums:
„Liebt einander, wie ich euch geliebt habe!"
Heute geht es um unsere Liebe zu Jesus Christus
und durch ihn zum Vater:
„Wenn jemand mich liebt,
wird er an meinem Wort festhalten;
mein Vater wird ihn lieben,
und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen."

Nun ist in der Geschichte der Kirche
gerade über die Liebe sehr viel gepredigt worden.
Das alles hat nicht verhindern können,
daß heutzutage kaum ein Wort so „ausgelutscht" ist
wie gerade das Wort von der Liebe.
Ich habe mich gefragt, ob ich es dennoch wagen sollte,
heute noch einmal dieses Wort in den Mittelpunkt einer Predigt zu stellen.

Schließlich habe ich mich dazu entschieden,
als ich - wie so oft - die erste Lesung neben das Evangelium hielt.
Da drängte sich mir nämlich ein Gedanke auf,
der mir so noch nie gekommen war.
In der Regel verbinden wir ja mit „Liebe"
ganz schnell den Begriffe wie „Treue", „Verbindlichkeit", „Kontinuität"...

Im heutigen Text der Apostelgeschichte jedoch ist von etwas die Rede,
das zwar nicht im Widerspruch dazu steht,
aber doch in einem auffallenden Spannungsverhältnis:
Die Apostelgeschichte erzählt ein Ereignis,
dessen Bedeutung für die Kirchengeschichte nicht hoch genug einzuschätzen ist
und das von einer enormen „Flexibilität" 
und „Anpassungsfähigkeit" der jungen Kirche zeugt,
wie wir sie uns für unsere Kirche heute manchmal wünschen würden.

Damals ging es im doppelten Sinne um eine Grenzüberschreitung:
einmal um den Schritt der immer noch jüdisch geprägten Kirche
hinaus in die Welt des „heidnischen" Hellenismus.
Viel schwieriger jedoch war der Schritt aus einer jüdisch geprägten Lebenspraxis
hinein in eine eigenständig christliche Emanzipation.
Diese Emanzipationsfrage entzündete sich an der Frage:
Sollen und müssen Heiden, die sich zu Jesus Christus bekennen,
zuvor nach jüdischer Sitte beschnitten werden?

In den Augen nicht weniger Judenchristen
war das blanke Selbstverständlichkeit.
Sie konnten sich nichts anderes vorstellen.
Schließlich war Jesus selbst Jude und als solcher beschnitten.
Alle seine Jünger waren selbstverständlich beschnitten.
Jesus war als der verheißene Messias des jüdischen Volkes gekommen.
Es ging ihm nicht darum, das Gesetz des Mose abzuschaffen.
„Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen" -
hatte er selbst einmal gesagt.

Es schien also nur konsequent und eben „treu",
den Heiden zu sagen:
„Wenn ihr euch nicht nach dem Brauch des Mose beschneiden laßt,
könnt ihr nicht gerettet werden!"

Es entstanden heftige Auseinandersetzungen,
wie es immer geschieht,
wenn scheinbar heilige Traditionen angetastet werden.
Wir kennen solch aufgeregte Argumentationen:
„Das war schon immer so!"
Und: „Wo kämen wir da hin?!"

Eine Einigung war nicht in Sicht.
Da beschloß man, an die kirchlichen Autoritäten in Jerusalem zu appellieren.
Und ausgerechnet die beweisen jene erstaunliche Flexibilität und Anpassungsfähigkeit,
die allein der Kirche Jesu Christi Zukunft eröffnete
und sie schließlich zu einer Weltkirche werden ließ.
Nur diese weitsichtige Entscheidung -
von der es ausdrücklich heißt:
„Der Heilige Geist und wir haben beschlossen" - 
machte es möglich, der Sendung Jesu Christi gerecht zu werden:
„Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern!"

Im Kontext des heutigen Evangeliums klärt sich für mich,
was es heißt: „An Jesu Wort festhalten"
und damit also auch, was es heißt, „Jesus zu lieben".
Das kann also nicht bedeuten,
sich stur an den vordergründigen Wortlaut zu klammern.
Dies zu tun, hätte zur Konsequenz 
- und hatte es ja auch oft genug -
daß Meinungsverschiedenheiten in der Kirche ausgetragen würden,
indem sich die „Parteien" gegenseitig Jesus- oder überhaupt Schriftworte
wie nasse Handtücher um die Ohren schlagen würden.

In einer solch spannungsgeladenen Situation
taten die Apostel etwas, was viel später Ignatius von Loyola
mit dem Begriff „Unterscheidung der Geister" umschrieb.
Sie setzten sich zusammen, beteten und überlegten „im Heiligen Geist",
welche Entscheidung in dieser konkreten Frage
dem „Geiste Jesu" entspreche.
Dieser Entscheidungsprozeß wurde in der Apostelgeschichte
detailliert festgehalten,
damit wir lernen,
die Überlieferung der Worte Jesu nicht nur im Kontext der Heiligen Schrift selbst,
sondern auch im Kontext der jeweiligen Situation je neu zu deuten -
und das im gemeinsamen Gebet und in der Kraft des Geistes Gottes.

So also ist auch das Wort des heutigen Evangeliums zu verstehen:
„Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten".
Mehr noch:
Nur so ist jener „Friede" in der Kirche möglich,
von dem Jesus im heutigen Evangelium auch spricht:
„Frieden hinterlasse ich euch,
meinen Frieden gebe ich euch.
Nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch."

Ignatius, von dem eben schon die Rede war,
hat wie kaum ein anderer diese lebendige, d.h. aber auch „flexible" Liebe gelernt
durch - im wörtlichen Sinn - „umwerfende" Lebenserfahrungen:
Auf der Festung Pamplona traf den Karriere-Offizier eine Kanonenkugel,
und die warf seine ganze Lebensplanung über den Haufen.
In dem darauf folgenden Jahr der Einsamkeit in Manresa
wurde er zum „Pilger Gottes", der immer wieder neu lernen mußte,
„flexibel" auf neue Situationen zu reagieren.
Je mehr er zum Mystiker der Liebe Gottes wurde,
um so mehr gewann er die innere Freiheit,
von seinen alten Plänen Abschied zu nehmen
und für sich selbst, aber auch für den jungen Orden,
den er schließlich gründete, und sogar für die Kirche immer wieder zu fragen: 
Was ist gerade jetzt und in dieser Entscheidungssituation
der Wille Gottes für mich, für den Orden und auch für die Kirche?

Seine „geistliche Erfahrung" von Manresa,
sein Leben in innerer Verbundenheit mit dem Geiste Gottes
ließen ihn immer wieder innovative Antworten finden.
Anders ist auch heute Innovation in der Kirche nicht möglich.

Amen.

Ein eigenes Thema wäre es übrigens,
über jene Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Innovationskraft der Liebe
in zwischenmenschlichen Beziehungen und z.B. in der Ehe nachzudenken.
Mir scheint, auch zwischenmenschliche Liebe erstarrt
und stirbt schließlich ab,
wenn sie nicht aus der Kraft des Geistes Jesu Christi
lebendig und damit flexibel bleibt.
Wenn Sie wollen, können Sie darüber ja selbst ein wenig nachdenken.
Versuchen Sie ruhig einmal, 
diese Gedanken im Anschluß an Lesung und Evangelium des heutigen Sonntags
auf Ihre zwischenmenschlichen Beziehungen zu übertragen.