Predigt zum 4. Fastensonntag (A) am 10. März 2002
Lesung: 1. Sam. 16, 1b. 6-7. 10-13b; Evangelium: Joh. 9, 1 - 41; 
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Da wird also ein Mensch geheilt.
Von Geburt an war er blind.
Und ganz unerwartet kann er auf einmal sehen.
Das Erstaunliche:
Niemand - nicht einmal seine Eltern -
freuen sich mit ihm.

Sie alle verhalten sich nach dem Motto der drei Affen:
„Nichts sehen - nichts hören - nichts sagen."
Sie sind die eigentlich Blinden!
• Sie sind blind aus Angst - aus Angst vor „Exkommunikation".
• Sie sind blind, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
• Sie sind blind, weil diese Heilung nicht in ihr Vernunftschema paßt.
• Sie sind blind, weil das Geschehene
ihre Ideologie ins Wanken bringen würde.
• Sie sind blind, weil sie sich sonst 
zu diesem Jesus bekennen müßten.
• Sie sind blind, weil ein Bekenntnis zu Jesus
ein Umdenken erforderlich machen
und die eigenen Machtstrukturen in Frage stellen würde.

Der einzig wirklich Sehende ist der geheilte Blinde.
Nicht nur seine Augen sind geheilt -
der ganze Mensch ist geheilt,
sein „Herz" ist geheilt.
„Der Mensch sieht, was vor den Augen ist,
der Herr aber sieht das Herz," hieß es in der Lesung.
„Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar,"
lernt der Kleine Prinz vom Fuchs.

Und genau dieses Sehen des Wesentlichen,
dieses Sehen mit den Augen Gottes
ist das Ergebnis der Heilung des Blinden.
Er sieht das Wesentliche.
Er sieht in Jesus den „Menschensohn",
den verheißenen Messias
und steht zu dieser Wesenssicht
in seinem Bekenntnis: „Ich glaube, Herr!"
Durch all die Anfeindungen, all die Verhöre
läßt er sich nicht verbiegen.
Er ist die einzige aufrechte und geradlinige 
Persönlichkeit dieser Geschichte.

Damit ist nun auch klar,
daß es hier nicht um eine medizinische Wundergeschichte geht.
Das eigentliche „Wunder" liegt ganz woanders:
Da lernt ein Mensch,
mit den Augen Gottes das Wesentliche zu sehen!
Und auf dieses „Wunder" käme es auch heute an;
diese „Heilung" täte uns allen not.

Ich las dieser Tage,
wir lebten in einer „Outfit-Kultur".
Das Äußere ist maßgebend.
Das Äußere springt uns in die Augen.
Aufgrund des Äußeren bilden wir unsere Urteile.
Und selbstverständlich wissen wir,
daß wir auch selbst nach dem Äußeren beurteilt werden.
Dementsprechend legen wir vor allem Wert
auf unser „Outfit"
und investieren da eine Menge Zeit und Geld.

Darüber gerät der Mensch ins Hintertreffen.
Wir sehen den Professor und sein wissenschaftliches Renommee.
Wir sehen den Wirtschaftsboß und seinen Erfolg.
Wir sehen den Politiker und seine Wahlchancen.
Wir sehen den Obdachlosen und meinen zu riechen, daß er stinkt.
Wir sehen den Bettler und seine Erbärmlichkeit.
Wir sehen den Yunkee und verurteilen seine Sucht.

Den Menschen sehen wir nicht:
Wir sehen nicht seine Würde,
wir sehen nicht sein persönliches Schicksal,
wir sehen nicht seine innere Größe.
Wir sehen nicht mit dem Herzen.
Wir sehen nicht mit guten Augen.
Wir sehen erst recht nicht mit den Augen Gottes.
Wir sind blind.

Es gibt diese Blindheit auch als gesellschaftliches Phänomen:
• Wir haben jahrelang die Augen verschlossen
vor der heraufziehenden Gefahr von Rechts,
weil wir wie gebannt waren von der linken Bedrohung.
• Wir wollen nicht wahrnehmen,
daß Israel augenblicklich einen menschenverachtenden Krieg führt,
weil unsere Augen verklebt sind
durch die mörderische Menschenverachtung,
derer sich unser eigenes Volk den Juden gegenüber schuldig gemacht hat.
• Wir sehen kaum das Elend eines ganzen Erdteils - Afrika,
weil der in den Schlagzeilen kaum vorkommt -
der Sudan zum Beispiel, 
wo seit mehr als zwanzig Jahren ein fürchterlicher Krieg tobt
von der Weltöffentlichkeit weitgehend ignoriert.
Wir sehen nicht mit dem Herzen.
Wir sehen nicht mit guten Augen.
Wir sehen erst recht nicht mit den Augen Gottes.
Wir sind blind.

Die Umkehr, zu der uns die Fastenzeit einlädt,
könnte und müßte beginnen mit der persönlichen 
und mit der gesellschaftlichen Frage:
Bin etwa auch ich blind?
Sind etwa auch wir blind?
Und wir müßten uns eingestehen:
Ja, auch wir sind blind - wenigstens partiell.
Dieses Eingeständnis könnte der Anfang einer Heilung sein.
Der Evangelist legt uns die Erzählung von der Heilung des Blinden
wie einen Teig auf die Augen,
damit auch wir mit offenen Augen und sensiblem Herzen sehen lernen.

Amen.