Predigt zum 6. Ostersonntag (A) am 5. Mai 2002
Lesungen des Sonntags: Apg. 8, 5-8.14-17 und 1.Petr. 3, 15-18; 
Evangelium: Joh. 14, 15-21. 
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Wir feiern immer noch Ostern!
Die Botschaft des heutigen Sonntags:
Ostern geschah nicht nur vor 2000 Jahren.
Ostern geht weiter.
Ostern geschieht heute.

Die Abschiedsreden Jesu,
aus denen das Evangelium ausgewählt ist,
sind sozusagen Sein Testament,
das allerdings von Johannes aufgeschrieben ist
unter dem Eindruck des Ostergeschehens,
und eben gerade auf dem Hintergrund der Erfahrung,
daß Ostern nicht an einen bestimmten Zeitpunkt gebunden ist,
sondern immer und immer wieder geschieht.

Wie das?
Im Evangelium heißt es:
„Ich werde euch nicht als Waisen zurücklassen,
ich komme wieder zu euch...
Und ihr seht mich, weil ich lebe und weil auch ihr leben werdet."
Wie ist das möglich,
jemanden zu sehen, der doch offenkundig abwesend ist?

Die Antwort Jesu:
„Der Vater wird euch einen anderen Beistand geben...
den Geist der Wahrheit,
den die Welt nicht empfangen kann,
weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt.
Ihr aber kennt ihn, weil er bei euch bleibt
und in euch sein wird."

Die nachösterliche Zeit ist die Zeit des Pfingstgeistes,
des „Geistes der Wahrheit".
„Wahrheit" meint hier nicht ein theoretisches Wissen,
meint nicht ein theologisches Lehrgebäude.
„Wahrheit" ist personal verstanden,
„Wahrheit" ist etwas ganz und gar Lebendiges.
Die personifizierte Wahrheit ist der auferstandene Christus.
Der „Geist der Wahrheit" ist die nachösterliche Weise
der realen und lebendigen Gegenwart des Auferstandenen.

Den allerdings kann „die Welt" nicht „sehen"
und schon gar nicht „empfangen",
weil sie schlichtweg keine Antenne für ihn hat.
Entscheidend für unser „Sehen" als Christen ist nicht nur,
daß Jesus lebt,
sondern vor allem, wenn und weil wir selber leben.
Und dieses „selber leben",
das Jesus nach der Überlieferung des Johannesevangeliums 
auch ein „Leben in Fülle" nennt (Joh. 10,10),
dieses „selber leben"
ist nichts anderes als ein Leben 
aus innerer Verbundenheit mit Christus.
Sehen meint dann nicht das äußere Sehen
mit den leiblichen Augen,
sondern das innere Sehen mit dem Herzen.
Mit diesem inneren Blick auf die Wirklichkeit
werden Christen, die Jesus nachfolgen,
Zeichen seines Lebens erkennen, 
also Ostererfahrungen machen
und selbst das Leben haben -
trotz Anfechtung und Zweifel.

Es lohnt sich zum Verständnis noch einmal 
ein Blick auf die Emmausszene unserer Osterkrippe:
Der Karfreitag 
- die dunkle Stadt, Golgota und das Kreuz -
all das bleibt als Stein des Anstoßes,
als Anfechtung, als Versuchung des Zweifels.
Aber mitten in diesen Dunkelheiten
immer wieder österliche Lichtpunkte:
die Begegnung auf dem Weg („Brannte nicht unser Herz..."),
das urplötzliche Erkennen beim Brechen des Brotes:
Er ist es! Er lebt!,
Und schließlich auf dem eiligen Rückweg nach Jerusalem,
auf dem Weg also zur Verkündigung der Osterbotschaft,
auf dem Weg zum persönlichen Glaubenszeugnis,
auf diesem Weg sehen sie sogar das Kreuz in einer Lichtgloriole -
„Sehen" mit dem Herzen.

Um dieses „Sehen" mit dem Herzen 
geht es auch in der Apostelgeschichte:
Philippus heilte Menschen
und trieb „Dämonen" aus.
Und er selbst trat dabei ganz in den Hintergrund
und „sah" in all dem - wie auch die anderen Apostel
und all die, die gläubig wurden -
einzig und allein das Wirken des lebendigen Christus.

Wir sollten - meine ich - viel mehr davon überzeugt sein,
daß auch wir heilen und Dämonen austreiben können:
daß wir heilen können ganz einfach 
durch menschliche und liebevolle Zuwendung;
daß wir Dämonen austreiben können:
die Dämonen der Gewalt etwa,
die in unseren Familien, auf unseren Straßen,
in unseren Schulen Tag für Tag ihr Unwesen treiben. 
Aus einem lebendigen Glauben,
mit ein wenig Zivilcourage
und mit überlegter Entschiedenheit
könnten wir sie austreiben - diese Dämonen der Gewalt.
Und überall, wo Menschen geheilt und aufgerichtet werden,
überall, wo Dämonen auch heute ausgetrieben werden,
können wir im Herzen und im „Geist der Wahrheit"
den auferstandenen Christus am Werke sehen.

Österliche Erfahrungen, österliches „Sehen"
spiegelt sich auch in der zweiten Lesung dieses Sonntags:

Es gab sie damals und es gibt sie heute -
diese Christen, die bereit und in der Lage sind,
jedem Rede und Antwort zu stehen,
der nach der Hoffnung fragt, die sie erfüllt.
Es gab sie damals und es gibt sie heute -
diese Christen, die selbst erfüllt sind von Hoffnung,
die also nicht ungefragt fromme Sprüche anderen aufdrängen,
die sich nicht als religiöse Schwätzer gerieren,
die nicht auf billige Art vertrösten,
die vielmehr ganz selbstverständlich,
bescheiden, ehrfürchtig und dankbar
aus der Hoffnung des österlichen Glaubens leben
und vor allem dadurch glaubwürdig Zeugnis ablegen.
Und wenn diese Hoffnung wirklich
ein durchgängiger Aspekt ihres Lebens ist,
werden sie - falls erforderlich - die Wurzeln dieser Hoffnung
mit wenigen, aber ausdrucksstarken Worten offenlegen können.

Überall, wo das geschieht, ereignet sich Ostern,
können wir mit den Augen des Herzens
den Auferstanden am Werke sehen.
Bernhard Vogel, der Ministerpräsident von Thüringen,
hat auf diese Weise nach dem schlimmen Tag in Erfurt
und noch einmal in seiner Traueransprache
zum Ausdruck gebracht, wo er in all der Dunkelheit des Geschehens
Hoffnung sieht.
Ich bin ihm persönlich öfters begegnet
und bin überzeugt, 
für ihn hat diese Hoffnung eine österliche Dimension.
Sie ist so etwas wie das Licht,
das in unserer Osterkrippe 
die Kreuze auf Golgota umstrahlt,
ohne deren Dunkelheit zu verwischen.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen
sehende Augen, bzw. sehende Herzen
mitten im Alltag - und mag der noch so düster sein.

Amen.