Predigt zum 1. Fastensonntag am 9. März 2003
Zum Evangelium: Mk. 1, 12-15.
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Das Interview mit "Frau Stille" ist entnommen der Zeitschrift "Familien- und Jugend-Gottesdienste" im Verlag Bergmoser + Höller (1/2003)
Das Evangelium ist sehr kurz.
Dennoch gäbe es Anregungen für viele Predigten:
• über die Wüste zum Beispiel, über Einsamkeit und Stille,
und über die Chance, gerade in der Wüste Gott zu begegnen;
• über die Rolle des „Satans",
bzw. über die Energien des Bösen
in uns selbst und in unserer Umwelt;
• über die Rolle der „wilden Tiere"
in der Wüste oder auch im Paradies;
• über das Verständnis von „Engeln" in der Heiligen Schrift
und darüber, was sie mit uns zu tun haben;
• über die Kurzformel der Botschaft Jesu:
„Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe.
Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!"

Von all diesen möglichen Themen möchte ich das erste herausgreifen:
Zur Vorbereitung auf Sein öffentliches Wirken
zieht Jesus sich für vierzig Tage in die Wüste zurück.
Diese Entscheidung Jesu reflektieren wir
zu Beginn der vierzigtägigen Fastenzeit,
die für uns - nähmen wir sie ernst -
zur persönlichen Wüstenerfahrung werden könnte.

Was versteht die Bibel unter „Wüste"?

Zunächst gilt die Wüste als ein gefährlich Ort -
wegen ihrer Unwirtlichkeit, aber auch wegen der wilden Tiere.
Damit steht sie im Kontrast zum „Paradies", zum „Garten Eden"
und kann so zum Bild und Gleichnis werden
für die konkrete Welt, in der wir leben,
und die eben durch die Schuld der Menschen
längst nicht mehr ein „Paradies" ist.

Dann aber ist im Verständnis der Bibel
die Wüste - und damit auch unsere konkrete Welt -
ein Ort der Gottesbegegnung und der Gotteserfahrung.
Das Volk Israel selbst hat dies erfahren
auf seinem Weg aus dem „Sklavenahsu Ägypten" in die Freiheit, 
auf seiner vierzigjährigen (!) Wanderung durch die Wüste.
Während dieser vierzig Jahre erlebte Israel 
die Wüste als ein Spannungsfeld 
zwischen Gottesferne und Abfall von Gott auf der einen Seite
und Gottes Zuwendung, Seiner Nähe und Seiner Fürsorge
auf der anderen Seite.

Immer wieder haben sich die großen, 
zumal die prophetischen Gestalten in der Geschichte des Gottesvolkes
in die Wüste zurückgezogen
um dieser Erfahrung willen,
und um daraus Kraft zu schöpfen für ihre Sendung.
So auch Jesus!

Und in Seiner Nachfolge sind auch in der Geschichte des Christentums
immer wieder Menschen für kürzere Zeit oder auch auf Dauer
in die Wüste gegangen.
Schon früh wählten Christen
für sich das Leben in der „Wüste", bzw. in der Einsamkeit als „Eremiten",
um im Spannungsfeld zwischen Gottesferne und Gottesnähe
immer tiefer hineinzuwachsen in die Gemeinschaft mit Gott
und in eine mystische Gotteserfahrung.

Erstaunlicherweise wählen gerade in unserer hektischen und säkularisierten Zeit,
in der die Kirche unter dem Mangel an Priesterberufen leidet,
und in der die sozial engagierten Orden über Nachwuchsmangel klagen,
immer mehr junge Menschen gerade diesen Weg der eremitischen Tradition
in die Wüste, in die Einsamkeit, in die Kontemplation.

Ich habe selbst vor kurzem in der Nähe solcher Menschen
acht Tage lang Exerzitien gemacht
und etwas von der Kraft verspürt,
die von solch einem Leben ausgeht.
Nicht weit von Göttingen gibt es seit gut zwei Jahren
ein Kloster von Nonnen - Monialen nennen sie sich selbst -
die nach der uralten Eremitenregel des hl.Bruno leben.
Sie haben sich dafür einen Ort ausgewählt,
von dem man glauben könnte,
so etwas gibt es in der Mitte der dichtbesiedelten Bundesrepublik
überhaupt nicht mehr:
einen Ort weit abgelegen von jeder menschlichen Siedlung,
einen Ort, von dem aus man stundenlange Wanderungen unternehmen kann,
ohne auch nur einem einzigen Menschen zu begegnen,
einen Ort ganz ungewohnter Stille,
einen Ort, den man kennen muß,
um überhaupt den Weg dorthin zu finden.

In diesem Kloster leben augenblicklich
neun junge Frauen in großer Abgeschiedenheit -
zwar gemeinsam und doch jede einzelne für sich
in der Einsamkeit ihrer einfachen Zelle,
nur zweimal am Tag im gemeinsam gesungenen Stundengebet
und in der Feier der hl.Messe miteinander verbunden.
Und dieses Stundengebet und diese Feier der Eucharistie
lebt ganz und gar aus der Kraft der Stille, der Einsamkeit
und der Gottverbundenheit.
Ich habe niemals zuvor 
eine solche Intensität, eine solche Gelassenheit und Ruhe,
ein solche Zeitvergessenheit beim Gebet erfahren.

Auf dem Hintergrund dieser Erfahrung,
auf dem Hintergrund der Wüstenerfahrung Jesu auch
und als einen Impuls dazu, 
sich auch und gerade in der Hektik unserer Zeit
immer wieder und zumal während dieser Fastenzeit
auf die Stille einzulassen,
möchte ich Ihnen ein fiktives Interview mit „Frau Stille"
vortragen:

(Es sprechen der Interviewer [I] und „Frau Stille" [S])

I: Frau Stille, ich bin etwas verlegen, 
wenn ich Sie um ein Interview bitte, 
denn Ihre Sprache ist mehr das Schweigen. 
Aber ich komme aus dem Reich Ihres großen Gegenspielers, des Lärms. 
Sie wissen, mittlerweile gibt es Ohropax, Lärmschutzwände und Hörgeschädigte.
Ich möchte ein wenig die Werbetrommel für Sie rühren - 
ach, da ist ja schon wieder ein Lärmwort!

S: Bitte, kommen Sie. Mein Haus liegt etwas abgelegen. 
Wir müssen zu Fuß gehen. 
Bei mir kann man nicht mit quietschenden Bremsen vorfahren
und aus dem Auto springen.

I: Sie wohnen sehr schön:
blühende Wiesen, sanftes Rauschen der Blätter,
ein murmelnder Bach. 
Ist das der einzige Zugang zu Ihrem Wohnsitz?

S: Sie haben bei der Pforte „Natur" geläutet. 
Andere finden mich über weite Strände, 
einen einsamen Felsgrat oder unter Sternenbildern. 
Manchen genügt eine Parkbank.

I: Viele Menschen haben sich von der Natur entfernt
und leben in Welten von Beton, Tastaturen und Motoren. - 
Gibt es noch andere Zugänge zu Ihrem Wohnsitz, Frau Stille?

S: Ich bin auch in von Menschen gebauten Räumen, 
wenn Sonnenstrahlen durch Glasfenster fallen. 
Kreuzgänge Licht und Schatten ahnen lassen 
oder moderne Architekturen mit dem Licht spielen. - 
Zu meinem Wohnsitz führt auch das Tor der Musik: 
nicht nur Meditationsmusik oder klassische Konzerte,
auch moderne elektronische Musik. 
Durch dieses Tor strömen heute viele Menschen zu mir.

I: Ja. in der Musik habe ich oft schon die Ruhe des Herzens gespürt.
Ich schätze, Sie haben etwas mit dem Frieden zu tun?

S: Schon in der Sprache liegt uralte Weisheit: 
Im Althochdeutschen heißt „still" ruhig gestellt, geborgen sein.
Darum spricht man ja auch vom „Stillen des Kindes". 
Das Wort „Lärm" aber kommt von „Alarm",
ursprünglich „zu den Waffen!", 
also ein Kampfruf oder eine heulende Sirene.
Die „Stille" birgt also den Gedanken an Ruhe und Frieden.

I: Gehen alle Zugänge zu Ihrem Haus durch die Welt des Schönen?

S: Nein, nicht jedes Schweigen ist Stille.
Es gibt zwischen Menschen auch manchmal
ein Verstummen, das die Fenster der Seele schließt, 
auch zum anderen hin.
Mich damit bitte nicht verwechseln!

I: Ich weiß, es ist das Verstummen vor der Angst. 
Und doch kann die Stille trotz schärfster Bewachung 
auch zum Gefangenen in die Zelle schlüpfen. 
Stille ist auch auf dem Friedhof erfahrbar 
beim Gehen von Grab zu Grab.

S: Aber wenn dann der Glaube nicht mitgeht, 
sind Friedhöfe nicht still, sondern nur verstummtes Leben. 
Der Glaube und ich - wir treffen uns übrigens oft. 
- Stille. - 
Wir sind jetzt bei meinem Haus angekommen. 
Wundern Sie sich nicht, 
dass wir zunächst durch eine Gemäldegalerie gehen!

I: Welche Künstler bevorzugen Sie?

S: Sie sehen hier Gemälde von Sieger Köder 
oder „Die Seerosen" von Monet 
und dort auch Skulpturen - 
wie zum Beispiel die Bettlerin von Barlach.
Manche Menschen gelangen eben über stille Bilder zu mir.

I: Was erwartet uns im nächsten Saal?

S: Meine Bibliothek. Auch hier ist die ganze Welt vertreten. 
Viele Pfade in die Stille 
hält die Weltliteratur für jeden bereit.

I: Und das große Buch, das da aufgeschlagen ist?

S: Es ist die Heilige Schrift. 
Ständig aufgeschlagen liegt die Stelle
aus dem Buch der Weisheit:
„Als tiefes Schweigen das All umfing 
und die Nacht bis zur Mitte gelangt war,
da sprang dein allmächtiges Wort vom Himmel..." (Weish 18,14). 
- Stille -
Diese letzte Tür führt jetzt in den Innenhof, 
der die Mitte meines Hauses bildet. 
An dieser Tür muss unser Interview enden. 
Ab hier gilt nur das Schweigen.

I: Was werde ich im Innenhof sehen?

S: Einen Teich, der das stürzende Licht von oben einfängt. 
An diesem Teich treffen sich alle Suchenden und alle Glaubenden. 
Es kann sein, dass Sie etwas warten müssen. 
Aber ohne Stille kann der Mensch
kein großes, geheimnisvolles Gottesbild haben.
- Stille - 
Darf ich Ihnen die Tür öffnen?

I: Ja, bitte und ich danke Ihnen für das Gespräch.