Predigt zum 2. Ostersonntag (B) 
am 27. April 2003
Evangelium: Joh. 20, 19-31;
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Das Evangelium dieses zweiten Ostersonntags
enthält gleich mehrere Gesichtspunkte,
die für unseren Glauben heute wichtig sind.
Einige davon möchte ich herausgreifen.

Zuerst springt uns natürlich der „ungläubige Thomas"
in die Augen.
In einer volkskirchlichen Umgebung,
in der fast jeder - wenigstens dem Anschein nach - gläubig ist,
wurde er häufig zur Spottfigur gemacht -
ein bischen nach dem etwas überheblichen Motto:
Wie selig zu preisen sind doch wir,
die wir „glauben, ohne zu sehen"!

Heute ist der Grundwasserspiegel des Glaubens erheblich gesunken -
und das nicht nur in der Gesellschaft,
sondern auch in unserem eigenen Herzen.
Wir selbst bleiben nicht unberührt 
von der um sich greifenden Säkularisierung.
Was früher scheinbar selbstverständlich war,
ist vielen von uns zur Frage geworden.

Und in dieser aktuellen Situation lautet 
die frohmachende Botschaft der Thomaserzählung 
im heutigen Evangelium:
Wir dürfen unsere Fragen, unser Glaubensschwierigkeiten,
ja sogar unsere Zweifel mitbringen zu Jesus Christus.
Wir dürfen all das auch mitbringen in Seine Kirche!
Wir müssen nicht unhinterfragt und mit einem kindlichen Glauben
zu allem Ja und Amen sagen,
um zu Jesus Christus und zu Seiner Kirche zu gehören
und Ihm im Herrenmahl zu begegnen.

Ein zweiter Gesichtspunkt:

Glauben kommt nicht nur - wie Paulus sagt - vom Hören.
Das führt zu einem einseitigen, 
intellektualistischen Glaubensverständnis.
Als ob der glaubende Mensch nur „Kopf" wäre!
Thomas lehrt uns etwas sehr Menschliches:
Glauben lebt auch von Begegnungen, von Erfahrungen, 
ja von Berührungen.
„Begreifen" - zumal das eigentlich Unbegreifliche „begreifen" -
hat etwas zu tun mit „greifen", also berühren.
Diese sinnenhafte Dimension von Glauben
haben wir unter dem Einfluß des Rationalismus
allzu sehr ausgeklammert.
Damit ist in unserem Glaubensverständnis
etwas „typisch Katholisches" in den Hintergrund getreten. 
Es ist in meinen Augen ein Mißverständnis der Seligpreisung Jesu,
wenn wir ein rationalistisches Glaubensverständnis 
mit Seinem Wort an Thomas begründen:
„Selig sind, die nicht sehen und doch glauben".

Ein dritter Gesichtspunkt:

Durch den Osterglauben sind leidvolle Erfahrungen
von Verletzungen, Wunden und Tod
nicht einfach „wie weggeblasen".
Ostern hebt den Karfreitag nicht auf!
Thomas selbst ist bis in die Tiefe seiner Seele hinein
durch die Erfahrung des Karfreitags verwundet.
Über diese Wunden kann er nicht einfach hinweggehen,
sie sind Teil seines Lebens geworden.
Er will und kann sie nicht einfach vergessen oder gar verdrängen.
Er muß sie vielmehr „begreifen".
Und erst so kann er sich dann auch auf Ostern einlassen
und verstehen, daß der Auferstandene zugleich der Gekreuzigte ist.

Wir tun uns und unserem Glauben keinen guten Dienst,
wenn wir unsere Wunden verstecken und verschweigen.
Thomas holt die Wunden Jesu und seine eigenen Verwundungen,
holt die schlimmen Erfahrungen des Karfreitags aus dem Vergessen hervor,
um sie „aufzuarbeiten".
Nur so kann er verhindern, 
daß sie in seinem Inneren zerstörerisch wirken
und seelische Krankheit bewirken.
Wir können von ihm lernen,
die Wunden und Enttäuschungen,
all unser Leid und selbst den Tod anzuschauen,
und zugleich und sogar in all dem 
die Zeichen österlicher Hoffnung wahrzunehmen.
Österliche Hoffnung ist eine „Hoffnung wider alle Hoffnung".
Wunden gehören zu unserem Leben in dieser Zeit.
Aber im österlichen Glauben erfahren wir eine Kraft, 
die uns gerade unter diesen Bedingungen menschlichen Lebens
tragen kann und tragen will.

Ein vierter Gesichtspunkt:

Immer wieder tritt der Auferstandene
in die Mitte Seiner Jünger „durch verschlossene Türen".
Es geht nicht darum,
sozusagen „naturwissenschftlich" zu verstehen,
was die Evangelien erzählen,
und wie das möglich war.
Die Evangelien berichten von einer Erfahrung der Jünger,
die wir sehr wohl auch heute machen können,
wenn wir uns von einer plumpen, materialistischen
Vorstellungsweise frei machen.

Die Evangelien berichten von einer Erfahrung,
die auf andere Weise auch Paulus machte:
Als er noch Saulus hieß,
waren seine „Türen" verriegelt und verrammelt
gegen alles, was mit diesem Jesus zu tun hatte.
Und dennoch fand der Auferstandene 
durch verschlossene Türen hindurch
einen Weg in das Herz dieses Menschen
und verwandelte ihn in einen Paulus.

Viele von uns haben mit sich selbst oder mit anderen
ähnliche Erfahrungen gemacht:
Da ist ein Mensch, der in Unglauben oder gar in Bosheit 
eingeschlossen und gefangen ist.
Und eines Tages findet Jesus Christus
durch verschlossene Türen den Zugang zu ihm
und er „bekehrt" sich.

Auch das ist österlicher Glaube:
Eine solche Bekehrung für möglich zu halten.
Unter diesem Gesichtspunkt
wünsche ich z.B. jenen Eltern einen „österlichen Glauben",
die niedergeschlagen oder gar verzweifelt sind
angesichts der „verschlossenen Türen" ihrer Kinder.

Und auch dies ist österlicher Glaube:
Vertrauensvoll damit zu rechnen,
daß der Auferstandene mit Seiner Liebe
auch durch die verschlossenen Türen 
eines Lebenspartners oder einer Lebenspartnerin,
ja sogar durch die verschlossenen Türen
meines eigenen ausgebrannten Inneren 
wieder eintreten kann,
und daß es einen Sinn macht,
darum gerade in diesen österlichen Tagen zu beten.

Amen.