Predigt zum 4. Ostersonntag (B) 
am 11. Mai 2003
Zum "Sonntag des Guten Hirten"
und zum Gebet um geistliche Berufe
(Evangelium: Joh. 10, 11-18).
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Das Evangelium hat diesem Sonntag den Namen gegeben:
„Sonntag des Guten Hirten".
Und seit vielen Jahren wird an diesem Sonntag
vor allem um geistliche Berufe gebetet.

Sie wissen so gut wie ich,
daß die Kirche in Deutschland immer weniger Priester hat:
• Priesterseminare stehen leer,
• viele Priester sind Pfarrer zugleich für mehrere Gemeinden,
• auch den Orden fehlt es an Nachwuchs,
• sie müssen viele ihrer Einrichtungen schließen
und ihre Kräfte konzentrieren.
• Wenn uns auf unseren Straßen 
überhaupt noch einmal eine Ordensfrau über den Weg läuft,
dann ist sie mit großer Wahrscheinlichkeit
schon fortgeschrittenen Alters.

Ein ganz anderes Bild bot sich in den vergangenen zehn Tagen
einer Gruppe von St.Michael in unserem Nachbarland Polen:
• Ganze Scharen von jungen Priesteramtskandidaten begeneten uns.
• Auf den Straßen von Krakau sahen wir immer wieder
kleine Gruppen von sehr jungen Frauen „unter dem Schleier".
In den ersten Tagen unseres Aufenthaltes
drehte sich mancheiner von uns nach ihnen um -
nicht selten mit der Bemerkung:
„Schade, daß die für die Männerwelt verloren sind!"

In vielen Krakauer Kirchen wirken Ordensgemeinschaften -
männliche, wie weibliche.
Die meisten Namen waren uns nicht einmal mehr vertraut.
In Göttingen kennt jeder die Paulinerkirche.
Aber den ersten leibhaftigen Pauliner
lernten wir wohl alle erst in Polen kennen.
Einer von ihnen führte uns durch das bedeutendste
polnische Wallfahrtszentrum, 
durch die Basilika und das Paulinerkloster von Tschenstochau.
Natürlich war eine Frage aus der Gruppe,
wie es denn um den Nachwuchs bestellt sei.
Die Antwort:
„Der Nachwuchs ist nicht unser Problem.
Wir haben 40 Novizen in einem Jahrgang.
Unser Problem ist es vielmehr,
wie wir diese jungen Leute unterhalten können."

Mitten in der quirlig-lebendigen Stadt Krakau
fanden wir streng beschauliche Klöster,
in denen Ordensfrauen zurückgezogen ganz dem Gebet leben.
In Auschwitz haben wir den Karmel besucht
und in der Kapelle der Schwestern die heilige Messe gefeiert.
Auch dort eine große Gemeinschaft,
die es als ihre Berufung versteht,
gerade an diesem Ort eines der schlimmsten Menschheitsverbrechen
ein Leben der Sühne zu leben
und einfach zu beten -
für die Millionen der Opfer und ihrer Angehörigen,
für die Täter auch,
und daß so etwas nie wieder geschehen möge.

Natürlich haben wir uns gefragt,
was die Gründe für so große Unterschiede
in den Kirchen zweier Nachbarländer sein könnten.
Fertige Antworten auf diese Frage haben wir nicht gefunden.
Wohl aber einige Anstöße zum weiteren Nachdenken
und viele neue Fragen:

Wir haben in Polen eine Volkskirche angetroffen,
wie sie einigen von uns noch aus eigenen Kindertagen
vertraut war:
Diese Selbstverständlichkeit, mit der die Menschen
in ihrer großen Mehrzahl gläubige Katholiken sind.
Wir haben im Pilgerhaus eines ganz neuen Wallfahrtszentrums
am Rande von Krakau gewohnt.
Täglich strömten unzählige Menschen dorthin.
Zum Rosenkranzgebet am Freitagnachmittag
war die riesige Basilika mit ihren etwa 2000 Plätzen voll.
Überall in den umliegenden Dörfern
sind in diesen Frühlingstagen die Wegkreuze
und Bilderstöcke mit bunten Blumen geschmückt.
An einem von ihnen sahen wir mitten am Tag
im Vorüberfahren eine Gruppe von Kindern
auf den Knien beten.
In all den vielen Kirchen gut besuchte Gottesdienste -
nicht nur fünf bis sieben mal am Sonntag,
sondern auch werktags.

Natürlich wurden unter uns auch kritisch
neben den positiven Seiten die Kehrseiten
einer volkskirchlichen Situation angesprochen.
Es wurde die Frage gestellt,
wielange die polnische Volkskirche in der neue gewonnen Freiheit
wohl noch Bestand haben werde,
und ob sie den westlichen Materialismus,
der eher schleichend daher kommt,
genau so gut überstehen werde,
wie sie den Materialismus marxistischer Prägung überstanden hat.

Wir fragten uns allerdings auch,
wie sehr unser eigener Glaube ausgehöhlt und geschwächt ist
durch die um sich greifende Grundhaltung von Konsumismus und Egoismus.
Haben wir überhaupt noch Verständnis dafür,
daß Menschen sich von Gott berufen wissen,
ihr ganzes Leben in Seinen Dienst zu stellen?
Sind bei uns nicht sogar „gut katholische" Eltern entsetzt,
wenn ihr Sohn sich entschließt, Priester zu werden,
und Tochter oder Sohn mit dem Gedanken spielen,
in ein Kloster einzutreten?

Inwieweit sind wir zumal davon überzeugt,
daß ein Leben des Gebetes in beschaulichen Klöstern
überhaupt eine Bedeutung für diese Welt haben könnte?

Was „gilt" in unserer Umwelt und auch bei uns selbst
ein Priester, ein Ordensmann oder eine Ordensfrau?

Gewiß, auch bei uns hatten „Geistliche" einmal eine
herausgehobene Stellung in der Gesellschaft -
so wie es heute wohl noch in Polen der Fall ist.
Und auch bei uns war es in der Familie sehr gern gesehen,
wenn eines der Kinder diesen „sozialen Stand" wählte.
Möglicherweise wird in Polen mit wachsendem Wohlstand 
nicht nur - wie bei uns - die Zahl der Kinder zurückgehen.
Vielmehr wird die Wahl eines geistlichen Berufes
auch nicht mehr unbedingt mit einem sozialen Aufstieg verbunden sein.

Aber viel wichtiger ist die Frage:
Was „gilt" ein Priester, was „gilt" eine Ordensfrau
unter religiöser Rücksicht?
Inwieweit schätzen wir ein Leben,
das sich ganz in den Dienst Gottes
und in den selbstlosen Dienst an den Mitmenschen,
insbesondere an den Armen stellt -
auch unter Verzicht auf „Selbstverwirklichung" im üblichen Sinn,
unter Verzicht auf Ehe und Familie,
unter Verzicht auf berufliche Karriere und Verdienst?

Diese Frage scheint mir die Schlüsselfrage zu sein -
hier bei uns, aber auch in Polen auf seinem Weg in die Zukunft.
Diese Frage ist sozusagen die Nagelprobe
auf die Substanz unseres Glaubens.
Die Antwort auf diese Frage ist allerdings zugleich auch
ein zentrales Kriterium für den inneren Zustand einer Gesellschaft.

Amen.