Predigt zum 6. Ostersonntag (B) am 25. Mai 2003
Evangelium: Joh. 15, 9-17
Autor: P.Heribert Graab S.J.
„Es gibt keine größere Liebe,
als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt."

Stellen Sie sich vor,
so etwas geschieht wirklich einmal:
Eine Mutter setzt sich mit ihrem Leben ein,
um das Leben ihres Kindes zu retten.
Oder ein Feuerwehrmann kommt um‘s Leben,
während er aus einem brennenden Gebäude
einen eingeschlossenen Menschen rettet.

Alle Welt würde von einer heroischen Tat sprechen.
Die Feuerwehrleute vom Word-Trade-Center
füllten die Schlagzeilen der Weltpresse
und erhielten einen Nachruf ihres Präsidenten höchstpersönlich.
Unzählige bewunderten sie,
und mancheiner war zu Tränen gerührt.

Für uns alle jedoch - seien wir ehrlich -
war dieses Geschehen g a n z weit weg.
Der Bildschirm brachte es in unser Wohnzimmer,
wie es uns ein Märchen aus Tausend-und-einer-Nacht ins Haus bringt.
Das rührt uns an, aber es betrifft uns nicht;
und verändern wird es uns schon garnicht.

Genau genommen hat uns ja auch die Geschichte Jesu nicht verändert,
obwohl wir uns ausdrücklich
und mit unserem Namen zu Ihm bekennen. 
Auch wer den Rosenkranz betet 
- so selbstverständlich ist das ja nicht -
sagt eher gewohnheitsmäßig:
„Der für uns gekreuzigt worden ist."
Was das bedeutet - dieses FÜR UNS -
wem ist das schon klar?

Etwa so, wie Politiker nach einer verlorenen Wahl
ins Mikrophon sagen:
„Wir haben unsere Politik nicht vermitteln können",
so ist es offenkundig Theologen und Predigern nicht gelungen,
zu vermitteln, was das heißt: FÜR UNS.

Jesus Christus hat sich selbst zum „Opfer" machen lassen,
zum Opfer von Gewalt, Leid und Tod.
Er hat sich ganz und gar auf die Seite derer gestellt,
die zu allen Zeiten die Opfer sind.
Und für sie alle hat Er die Sonne des Ostermorgens aufgehen lassen.

Haben Sie schon einmal erlebt,
wie auf dem Gesicht eines Leidenden, eines Kranken,
ja, eines Sterbenden „die Sonne aufgeht",
wenn jemand ihn liebt 
aus Liebe „sein Leben für ihn hingibt"?
Wohlgemerkt: Nicht so wie Sie jetzt denken!
Es geht nicht darum, für einen anderen zu sterben!
Es geht darum, für ihn zu leben!
Es geht darum, mein Leben hinzugeben,
nicht mein Sterben, nicht meinen Tod.

Und genau das paßt nicht in das Lebensgefühl unserer Zeit.
Heute geht es darum, das eigene Leben, 
sich selbst zu verwirklichen.
Und wenn da neben mir jemand leidet, krank ist -
vielleicht durch viele Jahre hindurch immer mehr verfällt,
dann haben wir dafür Pflegedienste und Pflegeheime,
auf die wir die Sorge um den Kranken abschieben können.

Das aber kostet eine Menge Geld -
täglich wird es uns in der Debatte um die Gesundheitsreform eingehämmert.
Jetzt schon wird jeder Handgriff der Pflege
nach Minuten und Sekunden berechnet.
Selbst wenn Pflegekräfte ihren Beruf nicht als „Job",
sondern als „Berufung" verstehen,
selbst wenn sie ihr Leben, d.h. aber auch ihre Zeit
ganz in den Dienst des Kranken stellen möchten,
wenn sie also ihr Leben für ihn „hingeben" möchten -
sie können es nicht, sie dürfen es nicht.
Sie stehen unter dem Diktat der Stopp-Uhr.

Ich möchte niemandem einen Vorwurf
oder ein schlechtes Gewissen machen -
weder denen, die beruflich in der Pflege tätig sind,
noch denen, die sich - manchmal schweren Herzens -
entscheiden müssen, die eigene Mutter in Pflege zu geben.
Es bleibt ihnen oft keine andere Wahl.
Aber genau da liegt der Hund begraben:
Was ist das für eine kranke Gesellschaft,
in der mancheine(r) nicht einmal die Wahl hat,
„sein Leben hinzugeben" für die pflegebedürftige Mutter?

Eine Gesundheitsreform kann dieses Problem nicht lösen,
ein „Reförmchen" schon garnicht.
Da greift viel zu viel ineinander.
Da geht es um Grundeinstellungen der Gesellschaft,
allerdings auch um Grundeinstellungen unserer selbst,
die wir - alle zusammen genommen - ja diese Gesllschaft sind.

Nicht nur den Theologen und Predigern ist es nicht gelungen,
das FÜR UNS des Lebens und Sterbens Jesu Christi zu vermitteln.
Uns allen, die wir uns Christen nennen, ist es nicht gelungen,
und gelingt es bis auf den heutigen Tag nicht,
das glaubwürdig und nachvollziehbar zu vermitteln,
was es in der Nachfolge Jesu bedeutet,
Mensch zu sein für,
Mensch zu sein füreinander.

Erinnern Sie sich daran,
daß „Leben" und „Liebe" die gleiche Sprachwurzel haben,
daß es also kein wirkliches Leben geben kann ohne Liebe,
daß also „sein Leben hingeben" eigentlich meint:
„seine Liebe verschenken" - und das ohne Ansehen der Person -
wie Jesus seine Liebe und sein Leben verschenkt hat
ohne Ansehen der Person:
• dem taubstummen Bettler am Straßenrand ebenso
wie dem von Dämonen Besessenen;
• dem Blindgeborenen ebenso
wie der „Sünderin";
• dem Ausländer ebenso
wie dem angesehen Pharisäer und Ratsherr,
der sich nur nachts zu Ihm hin traute.

Wenn wir im Evangelium hören:
„Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage",
dann sollten wir zugleich daran denken,
daß es im Verständnis Jesu letztendlich
kein anderes Gebot, keinen anderen Auftrag gibt als den:
„Liebe Gott, und liebe deien Nächsten wie dich selbst!"
und daß diese drei Aspekte der Liebe 
eine unauflösliche Einhekt bilden.

Wenn wir das nicht nur mit dem Kopf,
sondern mit dem Herzen 
und mit Händen und Füßen verstanden hätten,
und wenn dann die gelebte Praxis dieses Verstehens
wie ein Sturm durch unsere Gesellschaft fahren würde,
dann hätten wir keine Gesundheitsreform,
keine Rentenreform und überhaupt keine Sozialreform nötig.
Dann könnten wir den Hirnschweiß
all der klugen Kommissionen
für Sinnvolleres einsetzen -
für eine menschlichere Gesellschaft zum Beispiel.

Und noch eins:
Gleich zweimal spricht Jesus in diesem Zusammenhang 
von der Freude und davon, daß unsere Freude vollkommen werde.
Wir selbst hätten also am meisten davon,
wenn wir es lernten, „unser Leben hinzugeben" füreinander.

Amen.