Predigt zum Pfingstfest 2004
Thema: "Der Geist - die erfahrbare Seite Gottes"
P.Heribert Graab S.J.
Immer häufiger stellen Menschen die Frage
nach der Möglichkeit von Gotteserfahrung.
In ganz vielen Menschen ist die Sehnsucht
nach einer solchen Erfahrung Gottes wach.

Zugleich jedoch sind sehr viele Menschen
- je nach Temperament -
traurig, niedergeschlagen, enttäuscht
oder auch ärgerlich, wütend und sogar aggressiv,
weil sie glauben, Tag für Tag
die Erfahrung der Abwesenheit Gottes zu machen.

Gerade auf diesem Hintergrund
müßte Pfingsten eigentlich das Fest aller Feste sein:
Schließlich ist Pfingsten das Fest des Geistes,
und der Geist ist die erfahrbare Seite Gottes.

Die Realität sieht anders aus:
„Die Autobahnen sind verstopft.
Alle fahren heut ins Grüne."
Weihnachten - ja, da kann man noch was mit anfangen.
Ostern - da fehlt sogar schon vielen Christen der Glaube.
Pfingsten - tabula rasa - da fehlt sozusagen jedweder Zugang.
Unendlich weit klafft auseinander,
was die Kirche feiert
- den Geist als die erfahrbare Seite Gottes -
und die Gottesferne unserer alltäglichen Welt,
die Gottesferne sogar in der real existierenden Kirche.

Wenn wir diese Kluft überbrücken wollen,
müssen wir uns zunächst einmal 
die Eigenart menschlicher Erfahrung bewußt machen:
Deren Ausgangspunkt ist nämlich stets
die sinnlich wahrnehmbare Welt.
Gottes Wirklichkeit dagegen übersteigt unendlich
diese sinnlich wahrnehmbare Welt:
Er ist und bleibt der Jenseitige, „der ganz Andere".
Als „der ganz Andere" jedoch 
kann Er unserer Erfahrung - jedenfalls direkt - nicht zugänglich sein.

Und dennoch berichtet die Bibel von Gotteserfahrungen.
Allerdings erzählt sie,
wie Gott in der sinnlich wahrnehmbaren Welt
und in den sichtbaren Veränderungen
geschichtlicher, gesellschaftlicher und politischer Wirklichkeit
erfahrbar wurde.

So auch im Neuen Testament:
In Jesus von Nazareth hat Gott sich selbst ein menschliches Antlitz gegeben -
um der Möglichkeit unserer Erfahrung willen.
Und was in biblischen Zeiten galt, gilt heute noch:
Wenn wir Gott erfahren wollen,
dann dürfen wir Ihn nicht abgehoben von der Wirklichkeit,
irgendwo in einem nebulösen „Jenseits" suchen,
sondern in der raum-zeitlichen Wirklichkeit
unseres alltäglichen Lebens;
dann müssen wir Ihn vor allem suchen,
indem wir sensibel werden für die Transparenz Gottes,
für das Durchscheinen Gottes in dem, 
was wirklich menschlich ist.

In diesem Sinne kann ich Gott schon in der Natur erfahren -
zumal dort, wo diese Natur wirklich noch Gottes Schöpfung
und nicht durch menschliche Gewinnsucht pervertiert ist.
Franz von Assisi steht als Beispiel
für die Möglichkeit von Gotteserfahrung
in ehrfürchtiger Begegnung mit allen Geschöpfen.
Wo diese Ehrfurcht allerdings fehlt,
erfahren wir auch in Gottes Schöpfung
nichts, aber auch garnichts von Gottes Gegenwart
und von Seinem schöpferischem Wirken.

Gerade wenn wir auf Franz von Assisi schauen,
dürfen wir allerdings nicht übersehen,
daß er - mehr noch als in der Natur -
Gottes Nähe erfuhr in der Begegnung mit den Armen.
Vor allem weil er selbst als ein Armer unter den Armen lebte,
und weil er ihnen in großer Ehrfurcht begegnete,
war er sensibel genug, um in den Armen Gott zu erkennen.
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir gestehen,
daß wir den Armen unserer Zeit lieber aus dem Wege gehen,
und daß wir uns eher vor dem Erscheinungsbild der Armut ekeln,
als den Armen selbst ehrfürchtig, liebevoll 
und geschwisterlich zu begegnen.
Auch darin liegt ein Grund dafür,
daß wir uns so schwer tun, Gott zu erfahren.

Aber wenigstens in der Kirche sollten wir doch Gott erfahren können?!
Sicher ist es zutreffend, daß nicht wenige Menschen
hier in diesem Kirchenraum Gottes Nähe spüren.

Sie spüren Ihn dann, 
• wenn es ihnen gelingt,
wenigstens für Augenblicke die entfremdende Hetze
ihres Alltags hinter sich zu lassen.

Sie spüren Ihn dann,
• wenn sie sich im Gebet fragend, suchend und hörend
auf die vielen kleinen Zeichen und Bilder einlassen,
die in dieser Kirche von Gott und Seiner Botschaft sprechen.

Sie spüren Ihn dann,
• wenn sie in solchem Sich-Einlassen
gegen alle Ent-mutigung ein wenig Er-mutigung finden,
in ihrer Verwirrung zu mehr Klarheit gelangen,
mitten in ihrer Traurigkeit etwas Freude finden,
sich trotz schmerzhafter Verletzungen zur Versöhnung motivieren lassen, 
und statt der inneren Unruhe, mit der sie gekommen sind,
wirklichen Frieden mitnehmen, wenn sie gehen.

Aber Kirche - das ist nicht dieser Raum!
Kirche - das sind wir selbst, das sind konkrete Menschen,
das sind Gemeinden, in denen das Evangelium Jesu Christi gelebt wird,
in denen Gottes Geist spürbar ist.
Können hier in unserer Mitte
Menschen Gottes Nähe erfahren?
Ich meine Ja! - Allerdings viel zu selten!

Sie erfahren Gottes Nähe, 
• wenn wir aus der Anonymität heraustreten,
die geschlossenen „Burgen" unserer gewohnten Freundeskreise verlassen
und Fremde und Gäste mit offenen Armen aufnehmen;

Sie erfahren Gottes Nähe,
• wenn wir sie jene Herzlichkeit spüren lassen,
die Gott in Jesus den Menschen entgegengebracht hat;

Sie erfahren Gottes Nähe,
• wenn sie in dieser Gemeinde offene Ohren,
und auch Trost und Heilung finden;

Sie erfahren Gottes Nähe,
• wenn sie bei uns sein dürfen, was sie sind.

Noch einen ganz wichtigen Aspekt von Gotteserfahrung möchte ich nenen.
Der wird vielfach von denen übersehen,
die um einer solchen Erfahrung willen
dem Billigangebot von esoterischen Zirkeln,
Sekten und selbsternannten „geistlichen Bewegungen"
hinterherlaufen:

Bei den Gotteserfahrungen, von denen die Bibel berichtet,
geht es in der Mehrzahl nicht um individuelle Erfahrungen „im stillen Kämmerlein".
Die biblischen Gotteserfahrungen haben in der Regel
eine politische und eine gesellschaftliche Dimension.
Es geht um Erfahrungen im sozialpolitischen Kontext eines ganzen Volkes.
Es geht um Erfahrungen von Glauben und Unglauben in der Gesellschaft Israels.

Insbesondere sei erinnert an die Gotteserfahrungen Israels
rund um die Befreiung aus dem „Sklavenhaus Ägyptens",
rund um den „Exodus":
Zu diesen Gotteserfahrungen eines kleinen Volkes
gehören die „Plagen" gegen den Pharao und seine Politik ebenso
wie die Ereignisse beim Durchqueren des Roten Meeres,
die Gesetzgebung unter Donner und Blitz auf dem Horeb ebenso,
wie die Speisung und das Wasser aus dem Felsen beim Zug durch die Wüste. 

Sodann war die Verschleppung eines großen Teiles des Volkes nach Babylon
für Israel eine erschreckende und aufrüttelnde Gotteserfahrung.
In der Heimkehr nach Jerusalem und im Wiederaufbau des Tempels
erfuhr Israel schließlich Gottes Treue und Gottes versöhnten Heilswillen
allem eigenen Versagen zum Trotz.

Wenn wir uns die Hintergründe und Zusammenhänge
biblischer Gotteserfahrungen einer ganzen Gesellschaft
näher anschauen, erkennen wir sehr bald
die Bedingungen der Möglichkeit dieser Gotteserfahrungen;
und zugleich erkennen wir, 
welche gesellschaftlichen und politischen Verhaltensweisen
mit stringenter Unausweichlichkeit in die Gottesferne führen
und damit in erschreckende Situationen von Krieg und Gewalt,
Ungerechtigkeit und Unfreiheit, Armut, Elend und Tod.

Es geht immer wieder um den Abfall von Gott im „Götzendienst",
der das Zusammenleben der Menschen „entmenschlicht"
und damit auch von Gott entfremdet.
Im Kult des Geldes, des Prestiges und der Macht 
ist der Feind Gottes und des Menschen in gleicher Weise am Werke.
Es bedarf wohl keiner Aktualisierungen,
um zu verstehen, warum gerade in dieser Zeit
und unter den Bedingungen sowohl der deutschen, als auch der Weltpolitik
Gotteserfahrungen zum Problem geworden sind.

Die Gaben des Gottesgeistes dagegen sind
nach alter kirchlicher Tradition:
Weisheit und Einsicht,
Rat, Erkenntnis und Stärke,
Frömmigkeit und Gottesfurcht.
Diese Gaben des Pfingstgeistes hat noch am vergangenen Sonntag
unser Bischof auf die Firmlinge und auf uns alle herabgerufen.
In dem Maße, in dem wir uns heute an Pfingsten dafür öffnen,
werden wir mitbauen können 
an einer gerechteren und menschlicheren Welt,
werden wir zugleich immer wieder offen und bereit sein
für die Erfahrung Gottes und Seiner Gegenwart
in unserem Leben und in dieser Welt.

Amen.