4. Fastenpredigt am 5. März 2005
"Was macht Gott mit uns?"
Lesung: Lk 3, 21-22
Autor: P. Nguyễn ngọc Thế sj
"Du bist der geliebter Sohn, der kostbar, einmalig und auserwählt ist."

Liebe Gemeinde,

Im Laufe der vergangenen Jahre tauchte dieses eine Wort allmählich aus der Tiefe meines Herzen auf. Es ist das Wort „geliebt“. Als Christ, der an Gott glaubt, höre ich dieses wunderbare Wort bei der Geschichte der Taufe Jesu: „Du bist mein geliebter Sohn. Du gefällst mir gut.“

Und durch viele Erlebnisse, Gebete und Gespräche wurde mir die innere Überzeugung gebracht, dass diese Worte „Du bist mein geliebter Sohn, Du bist meine geliebte Tochter“ die innerste Wahrheit eines jeden Menschen freilegen. Das ist das größte Geschenk von Gott an jeden von uns. Es gibt die Stimme der Liebe, die Stimme, die vom Himmel her und aus unserem Innerem zu uns spricht, einmal leise geflüstert, ein anderes Mal laut gerufen: „Du bist mein geliebter Sohn. Du gefällst mir gut.“ Es ist sicher nicht einfach, sie in einer Welt zu hören, die voller Stimmen ist, die von anderen oder von unserem Schatten her schreien: „Du taugst zu nichts, du bist häßlich, du bist wertlos, du bist nutzlos, du bist niemand – oder beweise gefälligst das Gegenteil! Beweise, dass Du etwas wert bist, vollbringe etwas Bedeutendes, Imponierendes; damit kannst du dir die Liebe verdienen, nach der du dich so sehnst!“ Diese negativen Stimmen sind so laut und durchdringend, dass wir ihnen nur allzuschnell Gehör schenken. Das ist die große Falle. Das ist die Falle der Verachtung seiner selbst. Doch diese Falle ist der größte Feind unseres Lebens. Das blockiert uns, das Leben zu genießen, das verhindert uns, unser Leben zur Erfüllung zu bringen, und das will die gütige Stimme löschen, die uns den geliebten Sohn / die geliebte  Tochter nennt.

Aber trotz dieser Gefahr, trotz dieser Versuchung bleiben wir Geliebte, wir sind zutiefst Geliebte, schon lange ehe unsere Eltern, Lehrer, Ehepartner, Kinder und Freunde uns geliebt haben. Das ist die grundlegende Wahrheit unseres Lebens, die nicht löschbar ist. Wir sind von Gott geliebt, nicht weil wir etwas verdienen, sondern weil Gott uns einfach liebt. Er hat uns in den Tiefen der Erde geformt und uns im Schoß unserer Mutter gewoben. Er hat uns in seine Hand geschrieben, hat uns im Schatten seiner Flügel geborgen. In den Augen Gottes sind wir kostbar. In den Augen Gottes sind wir seine Perle.
Und jede Perle ist etwas Einmaliges. Einmalig bist du. Einmalig bin ich. Unsere Kinder vom Versöhnungskurs haben das durch die Daumenabdrücke festgestellt. Unter 8 Milliarden Menschen bist Du immer einmalig. Dein Daumenabdruck gehört niemandem außer Dir. Dein Leben und mein Leben sind einmalig. Niemand hat schon einmal dein oder mein Leben gelebt, und niemand wird das jemals wieder tun. Unser beider Leben sind einmalige Steine im Mosaik des menschlichen Daseins – unbezahlbar und unersetzbar.

Darüber hinaus ist jede Perle auserwählt. Ja, wir sind auserwählt von Gott. Auserwählt von Gott heißt aber nicht, dass man von anderen abgehoben und getrennt wird, oder dass man in dem extremen Wettbewerb von Auserwählten kämpft, damit man Superstar von Sport, Film, Musik, Theater und anderen Formen des Bekanntwerdens wird. Als die geliebten Kinder Gottes auserwählt zu sein, ist etwas unendlich Kostbares. Von aller Ewigkeit her, lange bevor wir geboren und ein Teil der Geschichte geworden sind, sind wir bereits in Gottes Herz existent. Lange bevor uns unsere Eltern bewundert, unsere Freunde unsere Talente geschätzt, sind wir schon „auserwählt“ worden. Unsere Kostbarkeit, Einmaligkeit und Individualität erhalten wir nicht von denen, die uns in der kurzen chronologischen Existenz begegnen, sondern von dem gütigen Gott. In seinen Augen sind wir kostbar. Das ist die Wahrheit, die aus unserer Mitte aufsteigt, die uns vom lieben Gott offenbart wird.

Geliebte Kinder Gottes und gebrochene Menschen
 
Liebe Gemeinde,

Als Geliebte Kinder Gottes sind wir nicht nur Auserwählte, sondern auch Gesegnete. Gott segnet uns, damit er uns nochmals unser Geliebtsein bekräftigt. Mit diesem Segen wünschte Gott sich, dass wir unter seiner Liebe leben. „Ihr sollt Euren Gott lieben mit ganzer Kraft, ganzer Vernunft und ganzer Seele und Ihr sollt den Nächsten lieben wie Euch selbst.“

Daher ist es schön, zu sehen, wie so viele Menschen auf der Erde gut miteinander umgehen, dass sie bereit sind, den Mitmenschen in der Not zu helfen, dass sie als geliebte Kinder Gottes ein gemeinsames und gutes Haus, unter den Schwestern und den Brüdern, aufbauen, dass sie im Frieden und gesund leben, und glücklich lachen. Ich glaube, dass Gott sich sicher freut, wenn er das sieht.

Aber wir sind nicht nur liebensfähig, sondern auch zerstörungsfähig. Daher sind wir auch gebrochene Menschen. Je öfter wir uns begegneten, desto deutlicher kam uns zu Bewußtsein, wie gebrochen das Leben eines jeden von uns ist. Das ist ganz normal.
Die Gebrochenheit des Menschen ist da bei einem jungen Mann, der sein Vaterhaus verließ, seine eigenes Erbe mitnahm, um das Leben zu genießen. Alles ist ausgegeben, der Geldbeutel ist auch leer geworden. Darauf folgte es, dass die Freunde und die Freude auch verschwunden sind. Letztlich stand er da ganz gebrochen. Schlimmer noch - er mußte jetzt zusammen mit den Schweinen sein. Er wollte etwas von der Futterkrippe zum Essen nehmen , aber das ging nicht. Ganz gebrochen ist er. Ganz tief gefallen ist er.

Die Gebrochenheit des Menschen erlebte ich auch bei einem Mädchen. Vor etwa 6 Jahren kam ich in meine Heimat – Vietnam. Ich durfte an einem Projekt für die Ausbildung der Katecheten von armen Jungen und Mädchen im Gebirge teilnehmen. Wir, etwa 120 Jugendlichen und Ordensleute, wohnten illegal zusammen. Am Tag arbeiteten wir, am Abend lernten wir gemeinsam Bibel, Katechismus, Gebet. Eines Tages ging ich mit einer Gruppe auf ein Feld, um zu arbeiten. Als ich neben einem Mädchen saß, um das Unkraut zu entfernen, sagte sie mir einfach: „Ich möchte Dir etwas erzählen. Weißt du, Ich möchte gern heiraten und eine Familie gründen, aber ich kann nicht, weil ich keinen Wasserbüffel habe. Meine Eltern sind schon gestorben und mein Oma ist schon alt und sehr arm.“ Nach der Regel vom Stamm des Mädchens, wenn eine Frau einen Mann heiraten will, muß die Braut dem Bräutigam einen Wasserbüffel als Gabe bringen. Sonst geht es nicht. Ich hörte das und wurde sprachlos. Ein gebrochener Mensch mit seiner Armut.

Gebrochen sind nicht nur die armen Menschen, sondern auch die guten Menschen. Dabei denke ich an einen ehemaligen Bischof von Saigon. Als der Kommunismus Südvietnam eroberte, wurden viele Menschen verhaftet. Nicht nur die Feinde, oder Intellektuelle, sondern auch manche Priester und Bischöfe. Der ehemalige Bischof von Saigon erzählt: „Am 15. August 1975, dem Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel, wurde ich in Saigon aufgefordert, mich zum »Palast der Unabhängigkeit«, zu begeben. Dort wurde ich festgenommen. Damit begann für mich eine neue, ganz besondere Etappe meines langen Abenteuers. Bekleidet mit einem Talar, und einem Rosenkranz in der Tasche, hatte ich mein Haus verlassen. Während der Fahrt ins Gefängnis wird mir bewußt, daß ich jetzt alles verliere. Das einzige, was mir bleibt, ist, mich der Vorsehung Gottes anzuvertrauen. Von dieser Stunde an ist es verboten, mich »Herr Bischof« oder »Pater« zu nennen. Jetzt bin ich der Herr Van Thuan.“ Die Stunde der Gebrochenheit ist gekommen. Der unschuldige Bischof, der gebrochene Mensch, mußte 13 Jahre im Gefängnis sitzen.

Liebe Schwester und Brüder,
Die Gebrochenheit des Menschen entsteht nicht nur durch die Ungerechtigkeit der Gesellschaft, durch irgendeine Ideologie, sondern auch durch eigene Sünde und durch viel mehr andere Gründe. Vor allem können wir unsere Gebrochenheit ganz bewußt und tief dadurch erkennen, dass keiner von uns dem Tod entrinnen wird. Das ist der radikalste, eindeutigste Beweis, dass unser Leben gebrochen ist und wird.

Gebrochene Menschen und gebrochener Gott

Aber wie soll Gott jetzt reagieren, nachdem er uns zu seinen geliebten Kindern machte, uns auserwählte und segnete? Was soll er mit uns, seinen geliebten Kindern machen, die in der Welt gebrochene Menschen wurden?

Nein, die Gebrochenheit des Menschen kann sein Geliebtsein nicht aufheben. In den Augen Gottes sind die Menschen, egal wie gebrochen sie auch sind, immer geliebt und kostbar. Daher will Gott nicht da sitzen, um zu sehen, wie seine geliebte Tochter / geliebter Sohn durch die Gebrochenheit zum Sterben kommt. Nein, Geliebte müssen gerettet werden. Konkret ist Gott uns geboren, er ist Mensch wie wir geworden. Bei seiner Geburt ist Jesus, Gott und Mensch, schon gebrochen, als er ganz arm in einer Hölle geboren ist und nicht in einem Kinderbett, sondern in einer Futterkrippe gelegen hat. Als gebrochener Mensch ist Jesus von seinen Eltern abhängig. Von Anfang an müssen sie das Jesuskind schützen nicht nur vor der Kälte, sondern auch vor der Verfolgung des Königs. Seit seiner Geburt in die Welt ist Gott schon ganz gebrochen. Arm wie das arme Mädchen. So tief herabgestiegen in die Futterkrippe wie der verlorene Sohn, der neben der Futterkrippe saß. So verfolgt wie der unschuldige Bischof. Der Gott, der uns sagte: „Du bist meine geliebte Tochter / mein geliebter Sohn“, ist jetzt uns nahe und er geht mit uns auf den Weg.

Gemeinsam auf dem Weg

Auf dem Weg zeigt Gott uns, wie er die Menschen liebt, wie kostbar seine geliebte Kinder sind. Ja, die Menschen sind geliebt und bleiben immer so. Sogar, wenn der Mensch Gott, den Vater, verlassen und auf anderen Wegen gehen möchte, respektiert er von seiner Liebe her die Freiheit des Sohnes und verhindert es nicht. Darüber hinaus gibt der Vater dem Sohn nicht nur das Erbe, sondern auch das kostbarste Geschenk. Das ist seine Liebe. Daher bleibt der Sohn immer geliebter Sohn, egal was er macht, egal wie er lebt. Ja, sogar wenn er ganz gebrochen und tief gefallen ist, ist Gott ihm immer nahe. Doch Gott kennt diese Futterkrippe sehr gut. Dabei sagt Gott immer zu ihm: „Du bist meine geliebte Tochter / mein geliebter Sohn“. Genau diese Liebe weckt in dem Sohn eine Kraft, einen Mut zur Umkehr. Die Umkehr in das Vaterhaus, Umkehr zur Liebe, Umkehr zum Glück des Geliebten Kindes.

Auf dem Weg geht Gott mit den Menschen, aber nicht nur auf dem guten Weg, sondern durch den armen Weg hindurch. Gott versteht sehr gut, wie das arme Schicksal des Menschen ist. Aber die Armut darf das Leben seiner geliebten Kinder nicht schädigen. Seine geliebte Kinder sollen leben und ihr Leben soll zur Erfüllung kommen. Daher soll das arme Mädchen ohne Wasserbüffel glücklich werden. Vor etwa 4 Jahre kam ich zum Besuch in meine Heimat. An einem Sonntagsvormittag fuhr ein Mitbruder mich mit dem Moped in ein einsam gelegenes und armes Dorf im Wald. Als wir das Dorf erreichten, begrüßten alle uns. Plötzlich kam ein Mädchen zu mir und sagte: „Hallo Bruder, kennst Du mich noch?“ Ich drehte mich um und erkannte das Mädchen, das ich vor 2 Jahre getroffen hatte. Sie sagte weiter: „Jetzt bin ich schon verheiratet. Ich habe auch ein Baby, 3 Monate alt.“ Ich hörte das und freute mich so sehr für sie. Jetzt hat sie nicht nur einen Wasserbüffel, sondern auch eine Familie und ein Kind. Das ist für mich ein großes Geschenk von Gott. Dann gingen wir in die Dorfskapelle zum Beten. Vor dem lieben Gott wollte ich so laut sagen: „Meine Seele preist die Größe des Herrn,  und mein Geist jubelt über Gott, unseren Retter. Denn der Mächtige hat Großes an diesem armen Mädchen getan, und sein Name ist heilig.“

Sein Name ist heilig und seine Liebe ist herrlich. Diese Herrlichkeit Gottes leuchtet nicht nur im Himmel, sondern auch in der Gebrochenheit der Menschen, sogar im Gefängnis. Ja, der unschuldige Bischof, der im Gefängnis saß, zeigte diese Herrlichkeit Gottes. Obwohl niemand im Gefängnis ihn Herrn Bischof oder Herrn Pater nannte, verlor er seine Identität nicht, die Identität des geliebten Kindes und des Priesters Gottes.

Er erzählte: „Als ich ins Gefängnis geworfen wurde, drängte sich in meinem Innern eine ängstliche Frage in den Vordergrund: „Wird es mir wohl noch möglich sein, die Eucharistie zu feiern?“. Ja, als ich verhaftet wurde, mußte ich sofort mitgehen, mit leeren Händen. Am folgenden Tag wurde mir erlaubt, an die Meinen zu schreiben, um das Nötigste von ihnen zu erbitten: Kleidung, Zahnpasta... Ich schrieb: „Bitte schickt mir ein bißchen Wein als Medizin gegen die Magenschmerzen.“ Die Gläubigen haben sofort verstanden. Sie schickten mir eine kleine Flasche Meßwein mit der Aufschrift „Medizin gegen Magenschmerzen“ und Hostien, die in einer Fackel gegen Feuchtigkeit versteckt waren. Die Polizei fragte mich: „Haben sie Magenschmerzen?“ – „Ja“ – „Hier ist ein bißchen Medizin für sie“. Nie werde ich meine große Freude in Worte fassen können: Mit drei Tropfen Wein und einem Tropfen Wasser in der hohlen Hand feierte ich Tag für Tag die Messe. Das war mein Altar, das war meine Kathedrale! Ich hatte wahre Medizin für Seele und Leib... Bei jeder dieser Feiern konnte ich die Arme ausbreiten, gleichsam als würde ich mit Jesus ans Kreuz genagelt; ich konnte mit ihm den bitteren Kelch trinken. Jeden Tag bekräftigte ich beim Sprechen der Konsekrationsworte aus ganzem Herzen und ganzer Seele einen neuen Bund, einen ewigen Bund zwischen Jesus und mir.“

Als gebrochene Menschen brauchen wir Medizin und Heilung. Das weiß unser Gott genau. Daher will er uns den Kelch und das Brot des Lebens reichen. Im Kommunionskurs unserer Gemeinde bearbeiteten die Kinder ein Thema „Ich bin das Brot des Lebens“. Die Kinder suchten nach der Bedeutung vom Brot des Lebens. Sie sagten: „Ich schaffe Gemeinschaft. Ich bin nicht nur zum Essen, sondern auch zum Teilen da. Ich heile, ich helfe, ich tröste, ich versöhne, ich mache die Freude und wenn man mich ißt, merkt man, dass man nicht allein ist.“

Ja, Gott läßt die gebrochenen Menschen, seine geliebte Kinder nicht allein. Er ist immer da für uns. Er steht nicht da und schaut, wie seine geliebte Kinder leiden und dann sterben, sondern er macht sich auf den Weg, geht mit seinen geliebten Kindern überall hin, sogar zur Futterkrippe, sogar ins Gefängnis. Am Ende stirbt Gott am Kreuz. Gott fällt ganz tief runter. Er erreicht die radikalste Art der Gebrochenheit. Aber das heißt nicht, dass Gott mit seinen geliebten Kindern hoffnungslos das Buch der Geschichte der Menschheit abschließt.

Nein, „Gott ist gestorben“ heißt nicht, dass Gott verliert. Umgekehrt besiegt Gott endgültig durch seinen Tod, durch seine Gebrochenheit den Tod, als er auferstanden ist.
Gott geht mit uns durch unseren Tod hindurch und führt uns zum Eingang in das weitere und neue Leben, wo wir trotz unserer vergangenen Gebrochenheit als Kinder Gottes immer geliebt werden.

Liebe Gemeinde,
Diese Betrachtung „was macht Gott mit uns?“ möchte ich mit einem Gebet abschließen:
Lieber Gott, wir danken Dir, dass wir die innerste Wahrheit erkennen: Wir sind deine geliebte Tochter und dein geliebter Sohn. Aber für uns bist Du auch unser geliebter Vater.
Amen.