4. Fastenpredigt am 12. März 2005
"Warum brauchen wir die Häuser mit den spitzen Türmen?"
Lesung: Gen. 18, 1 - 15;
Autor. P.Heribert Graab S.J.
„Die Häuser mit den spitzen Türmen"

„Die Häuser mit den spitzen Türmen" -
sie bestimmen - ob wir wollen oder nicht -
die Silhouette unserer Städte
und bilden den Mittelpunkt der meisten Dörfer.
Wie sehr „die Häuser mit den spitzen Türmen"
den Menschen ans Herz gewachsen sind,
wurde in den Tagen nach dem Brand der Johanniskirche
überaus deutlich.
Wer kann sich Göttingen schon vorstellen
ohne die „spitzen Türme" unseres mittelalterlichen Stadtbildes?

Dennoch - schon vor vielen Jahren
hat der Liedermacher und Geschichtenerzähler Herman van Veen
die „Häuser mit den spitzen Türmen" auf‘s Korn genommen
und seine Kritik keinem Geringeren als Gott selbst
in den Mund gelegt:

Der wollte sich mittags nur kurz mal die Beine vertreten
und lief den Hügel hinab zu jenem Dorf,
von dem er genau wußte, daß es da lag.
Und das erste, was Gott auffiel, war,
daß mitten im Dorf während seiner
Abwesenheit etwas geschehen war,
was er nicht kannte:
Mitten auf dem Platz stand eine Masse
mit einer Kuppel und einem Pfeil,
der pedantisch nach oben wies.

Gott stürmte die monumentale Treppe hinauf
und befand sich in einem
unheimlichen, naßkalten, halbdunklen,
muffigen Raum.
Und dieser Raum hing voll mit allerlei
merkwürdigen Bildern: viele Mütter mit
Kindern mit Reifen überm Kopf und ein fast
sadistisches Standbild von einem Mann
an einem Lattengerüst.

Ein kleines Männchen in schwarzem Gewand
erklärt Gott: „Das ist Gottes Haus."
„Aha... wenn das hier das Haus Gottes ist,
Junge, warum blühen hier dann keine Blumen?
Warum strömt dann hier kein Wasser?
Und warum scheint dann hier die Sonne nicht?
Bürschchen!"

Und Gott lief fröhlich pfeifend
aus der Kirche auf den Platz.
Da sah er auf einer Bank einen kleinen Kerl in der Sonne sitzen,
und Gott schob sich neben das Männlein
schlug die Beine übereinander
und sagte: „Kollege!"

Ich kenne viele der holländischen Kirchen,
die Herman van Veen wohl vor Augen hatte,
als er diesen Text schrieb.
Und es gab (und gibt?) sie ja wohl auch bei uns.
Heute würde ich selbst wahrscheinlich
ähnlich wie Herman van Veens Gott reagieren
und schleunigst das Weite suchen -
möglichst in die Sonne draußen auf dem Platz vor der Kirche.

Man sagt, die Architektur einer Kirche
bringe das Gottesbild der Gemeinde zum Ausdruck.
Da ist wohl was dran.
Jedenfalls kann man hier und da den Eindruck gewinnen,
das Gottesbild mancher Gemeinden,
die in Kirchen à la Herman van Veen zu Hause sind,
sei ähnlich „unheimlich, naßkalt, halbdunkel und muffig"
wie ihre Kirchen.
Vielleicht haben solche Kirchen
und das damit angedeutete Gottesbild
ihr Teil dazu beigetragen,
Menschen aus der Kirche zu vertreiben.

Manchmal komme ich mit solchen Menschen ins Gespräch.
Sie bezeichnen sich selbst hier und da als Atheisten.
Wenn sie mir dann etwas von dem Gottesbild erzählen,
das sie zu Atheisten gemacht hat,
dann kann ich nur sagen:
„Hätte ich dein Gottesbild,
wäre ich - wie du - ein Atheist."

Es gilt also auch das Umgekehrte:
Kirchen offenbaren nicht nur das Gottesbild der Gemeinde,
sie prägen auch das Gottesbild von Menschen.
Eine Kirche, die nur das Stadtbild prägt,
ist eine museale Kirche.
Die Kirche - und eben auch Kirchenbau und Kirchenraum -
sollten fürwahr auch Menschen prägen.
Und sie tun es!
Sie tun es im gleichen Sinne,
wie es bewußt oder unbewußt auch jene Christen tun,
die ihre Kirche so oder so gestalten.

Nehmen Sie ein Beispiel:
Welches Gottesbild und welches Bild vom Glauben
vermittelt wohl eine Kirche,
die den ganzen Tag geschlossen ist?
Abgesehen von dem Ärger, der mich jedes mal packt,
wenn ich an der verschlossenen Tür einer Kirche stehe,
•    frage ich mich:
Ob wohl der „Gott" dieser Gemeinde ähnlich
verschlossen und abweisend ist?
•    Ich frage mich auch,
ob der Glaube in dieser Gemeinde vielleicht
eingeschränkt ist auf die Gottesdienstzeiten,
während derer die Kirche offen ist?
•    Ich frage mich,
ob für die Menschen dieser Gemeinden
ihre Kirche wirklich zu ihrem Lebensraum gehört?
•    Und ich frage mich, ob in dieser Gemeinde
    - die Angst um ein paar materielle Dinge,
    die gestohlen werden könnten,
    - die mangelnde Phantasie, das zu verhindern,
    - und die Sorge um eine saubere Kirche
größer ist als ihr Glaube?

Die eigene Kirche angemessen zu beurteilen,
ist natürlich nicht einfach.
Ich möchte auch nicht behaupten,
daß unsere Kirche wirklich einen lebendigen Glauben
und ein einladendes Gottesbild widerspiegelt.
Wohl kann ich sagen,
daß viele darum sehr intensiv bemüht sind.
Und sicherlich ist es ein ausgesprochen positives Indiz,
wenn unzählige Menschen von früh bis spät
unsere Kirche aufsuchen
zu einer kurzen Zeit des Verschnaufens,
der stillen Besinnung oder auch des Gebets.

Und ganz im Sinne eines einladenden Gottes ist es,
daß unter diesen Besuchern unserer Kirche
nicht nur „brave" Katholiken sind,
sondern Menschen aller Konfessionen,
Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind,
und auch viele Nichtchristen.

Natürlich hängt auch in unserer Kirche
der „Mann an einem Lattengerüst".
Dieser Textschlenker jedoch gereicht weniger uns,
als vielmehr Herman van Veen selbst zur Blamage.
Der hat scheint‘s - bei all seiner Bildung -
vom Kern christlichen Glaubens wenig Ahnung.
Allerdings ist es meines Erachtens erschütternd,
daß immer weniger Menschen wissen,
wer dieser Mann am Lattengerüst ist,
und was er uns bedeutet.
Kinder bringen dies Defizit nicht selten
mit ihren Fragen zum Ausdruck
und zugleich ihre Eltern in Verlegenheit -
jedenfalls wenn ich gerade dabeistehe.

Daß das leider so ist, sollte nicht nur mir als Pfarrer,
sondern ebenso sehr den Erzieherinnen und Religionslehrern
und mehr noch unseren Eltern
ein Nagel ins Gewissen sein.

Übrigens hatten die ersten christlichen Gemeinden keine Kirchen.
Sie versammelten sich in ihren Häusern.
Es wäre allerdings etwas zu kurz gegriffen,
wenn wir uns auf den Hinweis beschränken würden:
Deren Gemeinden seien auch viel kleiner gewesen.
•    Wir sollten uns vielmehr fragen:
ob unsere privaten Häuser heute offen sind
für Gemeindemitglieder und andere Menschen überhaupt;
oder ob sie nicht vielmehr verbarrikadierten Burgen gleichen?
•    Auch sollten wir uns fragen:
ob unsere Häuser und Wohnungen Orte des Gebetes
und der Gottesbegegnung sind;
oder ob wir unseren Gottesglauben auf die Kirche reduziert haben?

Schließlich sollte uns sehr nachdenklich stimmen,
daß die „Häuser mit den spitzen Türmen"
früher einmal die ganze Stadt überragt haben
und damit ursprünglich auch zum Ausdruck brachten:
in dieser Stadt gibt es nichts Wichtigeres
als die „Wohnung Gottes mitten unter den Menschen".
Die „spitzen Türme" sind vielerorts längst abgelöst
durch Hochhäuser von Banken, Versicherungen und Wirtschaftsimperien.
„Tempel" des Mammon?
Ist der Mammon zum Wichtigsten geworden
in unserer Gesellschaft?
Möglicherweise auch in unserem ganz persönlichen Leben?
Und angesichts des finanziellen Wehgeschreis deutscher Bistümer
vielleicht sogar in der Kirche???

Je mehr unsere Gesellschaft von Götzen beherrscht wird
- nicht nur vom Götzen Mammon -
um so notwendiger sind die
real existierenden „Häuser mit den spitzen Türmen".
Sie sind mitten in unserer Zeit stumme Zeugen
für den einen, wahren Gott
der Gerechtigkeit, der Liebe und des Lebens.

Die aus lebendigen Steinen erbaute Kirche

Auf der symbolischen Ebene jedoch verweisen
die „Häuser mit den spitzen Türmen"
- die aus toten Steinen gemauerten Kirchen also -
auf jene Kirche, die aus lebendigen Steinen gebaut ist,
und deren Eckstein Jesus Christus selbst ist. (Cf. 1.Petr. 2, 5-9)

In vielen Bildern und Vergleichen spricht schon das Neue Testament
und dann die christliche Tradition bis auf den heutigen Tag
von dieser lebendigen Kirche:
•    „Gemeinschaft des Glaubens" wird sie genannt,
•    im apostolischen Glaubensbekenntnis gar „Gemeinschaft der Heiligen";
•    im großen Glaubensbekenntnis bekennen wir sie
    als die „eine, heilige, katholische und apostolische Kirche";
•    die Mystik spricht von ihr als der „Braut Christi";
•    die Theologie von Paulus bis Pius XII. faßt sie in das Bild
    vom geheimnisvollen Leib Jesu Christi,
    dessen Glieder die Gläubigen sind;
•    das Zweite Vatikanische Konzil nennt sie „Volk Gottes unterwegs".

Auch über diese „lebendige Kirche"
werden wir heute abend sprechen müssen.
Für viele ist sie zum „Stein des Anstoßes" geworden.
Aber genau genommen war sie das immer schon.
Und das ist nicht weiter verwunderlich -
im Gegenteil: Verwunderlich ist es,
daß diese Kirche in ihrer Geschichte immer wieder
stromlinienförmig der Gesellschaft angepaßt
und hoch geachtet war.
Schließlich wurde ja Jesus Christus selbst,
dieser Stein, auf den die Kirche gebaut ist,
von den Bauleuten verworfen;
er selbst wurde „zum Stein, an den man anstößt,
und zum Felsen, an dem man zu Fall kommt." (1. Petr. 2, 7 f).

Jesus selbst hat für seine Jüngerinnen und Jünger nichts anderes erwartet.
Und er wendet sich auch an uns Heutige:
„Denkt an das Wort, das ich euch gesagt habe:
Der Sklave ist nicht größer als sein Herr.
Wenn sie mich verfolgt haben,
werden sie auch euch verfolgen." (Joh. 15, 20).

Warum stößt die Kirche Jesu Christi
von ihrem Wesen her auf Widerspruch?
Drei Gründe seien genannt:
•    Die Kirche ist um eines anspruchsvollen und
    verbindlichen Glaubens willen da,
    der nicht nur „für wahr gehalten",
    sondern gelebt werden will.
•    Die Kirche ist zwar - wie der Glaube selbst -
    ein Geschenk Gottes: Göttliche Kirche, Heilige Kirche.
    Zugleich jedoch ist sie auch das Werk von Menschen:
    Menschliche und gar zu oft „allzu menschliche" Kirche,
    unheilige Kirche.
•    In einer zunehmend indiviualisierten, entsolidarisierten,
    ja sogar vielfach gemeinschaftsfeindlichen und egoistischen Lebenswelt
    ist die Kirche von ihrem Wesen her Glaubensgemeinschaft.

Betrachten wir diese drei Gesichtspunkte ein wenig näher:

1.    Kirche ist um des Glaubens willen da.
Wir bekennen im Glaubensbekenntnis nicht
irgendeine vage „Meinung",
auch keine Weltanschauung,
und auch kein Für-wahr-halten von irgendwelchen
Lehrsätzen, Thesen oder Dogmen.

Wir bekennen vielmehr unseren Glauben an den einen Gott,
der in Jesus von Nazareth Mensch geworden ist.
Glauben bedeutet also ein verbindliches Ja zu diesem Gott,
drückt also zunächst und vor allem eine Beziehung aus.
Schon wenn ich einem Menschen sage: Ich glaube an dich!
dann sage ich damit:
Ich liebe dich.
Ich stehe zu dir.
Du kannst dich auf mich vorbehaltlos verlassen.

Das Gleiche gilt, wenn ich bekenne:
Ich glaube an Gott.
Das bedeutet:
Ich liebe Dich - mehr als alles andere.
Ich stehe zu Dir - auch in einer gottesfernen,
ja sogar gottesfeindlichen Umwelt.
Du kannst Dich auf mich verlassen - egal was kommt.

Schon der liebende und wirklich gelebte Glaube an einen Menschen
bringt Konsequenzen mit sich.
Eheleute, die ein Leben lang in Liebe zueinander stehen
und füreinander da sind,
können viel davon erzählen.

Der liebende und wirklich gelebte Glaube an Gott in Jesus Christus
bringt wenigstens ebenso sehr Konsequenzen mit sich:
Er bedeutet nicht mehr und nicht weniger als „Nachfolge Jesu".
Was das konkret heißt,
läßt sich ablesen am Leben dieses Menschen Jesus von Nazareth
und an Seiner Botschaft -
insbesondere an den Herausforderungen der Bergpredigt.

Menschen kapitulieren heute schon
vor den Anforderungen, die eine Ehe an sie stellt.
Wie sollten sie nicht erst recht kapitulieren
vor den Anforderungen jenes Glaubens,
den die Kirche verkünden muß -
sei es gelegen oder ungelegen?

Schon Heinrich Heine sah in der Taufe
„das Entrée-Billett zur europäischen Kultur".
Ein solches Kulturchristentum hat zwar einen langen Atem -
auch in Zeiten der Säkularisation.
Mit jenem Glauben jedoch, den Kirche zu verkünden hat,
hat es nur wenig zu tun.

Nicht nur in der Gestalt dieses Kulturchristentums
ist die Versuchung eines „Glaubens light" sehr groß -
auch in der Kirche selbst.
Manche meinen sogar, die Kirche der westlichen Welt
sei degeneriert zur offenen Weltanschauungsgemeinde
mit unscharf philanthropischen Engagement.
Ein Beitrag in der Neujahrsausgabe der Süddeutschen Zeitung
drückte das so aus,
und wünschte sich als nächsten Papst
einen Martyrerbischof aus der verfolgten Kirche Chinas;
nicht „einen Exponenten einer Beamtenkirche
mit Einbettung ins Korps der Notablen",
sondern den Vertreter einer Kirche,
„die für das Bekenntnis des Glaubens
Tod und Verfolgung in Kauf nimmt,
und die ihre Aufgabe im Beten sieht
und nicht im Aussprechen von Dialog-Einladungen
und im Leisten von Beiträgen zu einer gerechteren Gesellschaft."

2. Damit sind wir schon mittendrin
in einer Betrachtung der menschlichen
und allzu menschlichen Seite der Kirche. 
„Glauben light" - das ist der eine Straßengraben,
in den Menschen ihre Kirche bugsieren.
„Fundamentalismus" als Gegenreaktion
ist dann genau der andere Straßengraben.
Daß ausgerechnet die „Süddeutsche"
solch fundamentalistischen Träumen Raum gibt,
läßt sie nicht besser aussehen.

Jedweder Fundamentalismus ist die Negation
der menschlichen Seite von Kirche
und die Unfähigkeit, mit jenem Ärgernis zu leben,
das aus der Menschlichkeit von Kirche auch resultiert,
und das Gott uns in dieser Kirche einfach zumutet.

Das Menschliche an der Kirche sind übrigens
nicht nur die vielen Unzulänglichkeiten,
die nicht sein sollten, aber eben doch sind,
weil keiner von uns fehlerlos ist.

3.  Zum Menschlichen an der Kirche gehört auch
ihre Konstitution als Gemeinschaft -
mit allen Konsequenzen, die das hat.
Der Mensch ist von seinem Wesen her
- als Abbild des Dreieinigen Gottes -
eben nicht „Robinson".

Der Mensch ist
- mag unsere Zeit noch so sehr den „Single" propagieren -
wesentlich auf Gemeinschaft bezogen:
•    schon rein biologisch verdankt er seine Geburt anderen;
•    sowohl materiell, als auch psychologisch
bleibt er ein Leben lang auf andere bezogen;
•    zudem ist menschliches Leben auf vielfache gesellschaftliche
und staatliche Organisationsformen und Strukturen angewiesen.

Wenn nun Gott selbst Mensch wird,
läßt Er sich ganz und gar auf diese sozialen Bedingungen
des Menschseins ein.
„Inkarnation" - Menschwerden, Fleichwerden, Materiewerden -
geschieht bis hinein in die gesellschaftlichen Strukturen des Menschseins.

Unter den gleichen Bedingungen geschieht menschlicher Glaube:
Unser Glaube lebt von der Überlieferung
und von dem Glaubenszeugnis anderer.
Glaube ist undenkbar ohne zwischenmenschliche Kommunikation -
sosehr er auch gleichzeitig Geschenk Gottes ist.
Unser Glaube lebt auch davon,
daß wir ihn miteinander feiern.
Denken Sie sich einmal unsere Gottesdienste, die Liturgie weg -
da bleibt letztendlich vom Glauben
kaum mehr als ein dürres und nicht lebensfähiges Konstrukt.

Glaube ist also notwendigerweise kirchlicher Glaube.
Glaube ohne Kirche kann auf Dauer so wenig sein,
wie ein Mensch ohne Atemluft sein kann.
„Glaube ja - Kirche nein!"
„Ich kann auch im Wald beten!" -
solche Sprüche sind also unrealistisch
und dumm bis zum Geht-nicht-mehr.
Wir werden damit leben und das beste daraus machen müssen,
daß viele Menschen heute „irgendwie"
mit der Kirche in Verbindung bleiben möchten,
aber nicht bereit sind, eine kirchliche Bindung einzugehen.

Chancen für eine Kirche von morgen

Wir haben von der Kirche gesprochen als einer Gemeinschaft,
die den Menschen den Glauben an Gott
als umfassenden Lebenssinn eröffnet
und dazu einlädt.
So gesehen ist die Kirche gerade für unsere westliche Welt
mehr als überlebensnotwendig.

Wir haben von der Kirche gesprochen als einer Gemeinschaft,
die notwendigerweise menschliche Züge trägt.
Leider achten wir dabei vorrangig auf die allzu menschlichen Aspekte.
Wir übersehen leicht,
daß in dieser Konstitution der Kirche
eine ungeheure Chance liegt und eine große Aufgabe:
Wir dürfen diese Kirche mitgestalten.
Wir dürfen all unsere Kreativität und Phantasie aufwenden,
um dieser Kirche ein wirklich menschliches Antlitz zu geben
und sie so - im Vertrauen auf Gottes Verheißungen und Beistand -
zukunftsfähig zu machen.

Die Bedingungen dafür sind ja gar nicht so schlecht,
wie wir vielfach annehmen:

•    Zum ersten Mal seit der konstantinischen Wende
sind Menschen wirklich frei,
sich für den Glauben zu entscheiden.
Man muß nicht mehr kirchlich-religiös sein.
Natürlich bedeutet das das Ende der Volkskirche.
Aber es bedeutet auch das überzeugte Ja
einer zunehmenden Zahl von Menschen,
die sich sehr bewußt und mit allen Konsequenzen
für Glauben und Kirche entscheiden.

•    Im Unterschied zu früheren Zeiten
ist es in der Regel auch nicht mehr „nützlich",
dieser Kirche anzugehören.
Damit redzuziert sich die Zahl der „Trittbrettfahrer",
denen es nicht so sehr um den Glauben,
als vielmehr um handfeste Vorteile geht.

•    In dem Maße, in dem sich Kirche wieder
auf ihre eigentlichen Wurzeln
und auf die reiche Tradition ihrer Spiritualität besinnt,
wird sie gerade für Menschen unserer Zeit
anziehend wie ein reizendes Mädchen
anziehend ist für einen jungen Mann.

•    In einer Erlebnisgesellschaft eröffnen zudem
religiös-spirituelle „Events" vielen Menschen
einen neuen Zugang zu Glaube und Kirche.
Denken Sie an Taizé-Reisen, Santiago-Wallfahrten,
an Kirchentage und auch an die Weltjugendtage.
Vor diesem modischen Wort vom „Event"
sollten wir da keine Angst haben,
sondern vielmehr die Chancen nutzen.

•    Auch sollten wir nicht vergessen,
was Menschen heute - auch Kirchenferne -
an der real-existierenden Kirche und auch
am aktuellen Papst Johannes Paul besonders schätzen:
Es ist das engagierte Eintreten
für Gerechtigkeit und Frieden - sei es gelegen oder ungelegen.
Es wäre der größte Fehler,
eine neu aufblühende Spiritualität
gegen den Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden
und gegen weltweite Caritas auszuspielen.
Es kann nicht um ein Gegeneinander
von „vertikal" und „horizontal" gehen.
Vielmehr ist es ein Proprium kirchlicher Spiritualität,
Gottesdienst und Dienst am Menschen,
Kontemplation und Aktion als eine Einheit zu begreifen.
Diese Einheit macht gerade die Identität von Kirche aus.

Die schon seit Jahren absehbare Umbruchssituation
der Kirche in Deutschland weckt verständlicherweise viele Ängste.
Viel Vertrautes bricht weg.
Wir werden mit geringeren Finanzen zurechtkommen müssen.
Die große Zahl der Hauptamtlichen
wird sich die Kirche nicht mehr leisten können.

In dieser Situation lohnt sich ein Blick
auf die Kirchen in anderen Ländern -
in Frankreich etwa, oder in Schweden.
Die für uns neue Situation ist diesen Kirchen lange vertraut.
Dennoch sind diese Kirchen um einiges lebendiger und auch jünger.

Auch lohnt sich ein Blick in die Bibel:
Was damals für das pilgernde Volk Gottes galt,
gilt heute noch:
Die „Wüste" ist ein herausgehobener Ort
der Zuwendung Gottes und Seines Heils.

Der trauernde und klagende Blick zurück lähmt.
Von Abraham wird erzählt,
er sei vertrauensvoll aufgebrochen in eine neue Zukunft.
Als Gott ihn rief, habe er die Brücken nach Haran,
seiner alten Heimat, abgebrochen - um des Neuen willen.
So brauchen auch wir Zukunftsperspektiven,
die Phantasie und Kreativität freisetzen,
und uns motivieren, die Ärmel aufzukrempeln
und eine zeitgemäße Umgestaltung der Kirche
tatkräftig anzupacken.

Mehr denn je ist das ganze Volk Gottes,
sind wir alle herausgefordert.
Natürlich wird das auch Auswirkungen haben
auf die Leitungsstrukturen der Kirche.
Auch da lohnt sich ein Blick auf die französische Kirche:
In den meisten französischen Bistümern
sind z.B. Frauen in Leitungspositionen selbstverständlich.
Spitzenreiter ist hier das Bistum Tarn:
dort leiten neun Frauen, aber nur acht Männer
die entscheidenden Dienste der Diözese.

Auf der unteren Ebene haben die traditionellen Pfarreien
als volkskirchliche Institutionen mehr oder weniger ausgedient.
Sie werden deshalb jedoch nicht überflüssig:
Gerade in einer zunehmend säkularisierten Umwelt
müssen sie „Heimat des Glaubens" sein.
Die neue Nachbarschaftsgemeinde muß
in einer individualisierten Gesellschaft
Gemeinschaft im Glauben erfahrbar werden lassen
und dem Glauben die nötige „Nestwärme" geben.

Darüber hinaus aber brauchen wir auch
City- und Passantenkirchen,
brauchen wir offene und missionarische Zentren,
die sich als Serviceangebote verstehen
für die vielen Zeitgenossen, die „mit Kirche nichts am Hut haben",
die aber Antworten auf ihre Fragen suchen
und Orientierungshilfen bei ihrer Sinnsuche
gerne annehmen - auch wenn sie von der Kirche kommen -
wenigstens dann, wenn diese Kirche ihnen vorurteilsfrei,
offen und partnerschaftlich begegnet.

Im Kern muß diese neue Kirche von einer breiten Solidarität
ihrer Mitglieder, aber auch vieler anderer
konstruktiv Engagierter getragen werden.
Mitläufer und bloße Ja-Sager haben ausgedient.
Die neue Kirche braucht mitdenkende, mündige,
auch kritische und solidarisch engagierte Christen.
Ein Schlüsselwort der kirchlichen Zukunft heißt:
„kritische Solidarität".

Schluß: „Sara-Kirche"

Abschließend möchte ich zurückkommen
auf die biblische Lesung dieses Gottesdienstes
und eine Antwort geben auf die Frage,
was denn wohl die Geschichte des alten Abraham
und der schon unfruchtbaren Sara
mit der Kirche von heute zu tun hat.

Das alte Paar hatte seine Hoffnung
auf eigene Kinder schon begraben.
Ihr Blick war auf die Vergangenheit gerichtet.
Die Zukunft - nämlich eigene Kinder -
hatten sie bereits abgeschrieben.

Dann: Die Gottesbegegnung in Gestalt der drei Männer;
die Verheißung eines Sohnes - übers Jahr;
das ungläubige Lachen der Sara.

Ist nicht die Gestalt der Kirche in unseren Breiten
ähnlich alt und unfruchtbar geworden?
Und könnte es nicht sein,
daß Gott auch die alt gewordene Sara-Kirche heimsucht?
Und könnte es nicht sein,
daß er auch der Kirche hierzulande junge Lebendigkeit verheißt?
Vielleicht sollten wir wirklich - anstatt ungläubig zu lachen -
darauf setzen, daß letztlich nicht wir
der Kirche eine zukunftsfähige Gestalt geben müssen,
sondern daß Gott Seine Kirche baut
und gegebenenfalls auch umbaut?

Die vergehende Gestalt der Kirche
würde sich - wie Sara - auf die Geburt einer neuen vorbereiten.
Eine Art Kirchenschwangerschaft fände statt.
Entscheidend aber wird sein,
daß Sara guter Hoffnung ist.
Sie würde vor der kommenden Gestalt nicht bangen,
über ihr Altern nicht jammern,
sondern voller Freude neues Leben erwarten
und daran mitwirken, daß es gesund zur Welt kommt.

Amen.