Fastenpredigt am 1. April 2006
"In den Schuhen des Pilgers"
Lesung: Ps. 84
Autor: P. Philipp Görtz S.J., Frankfurt
Einführung

Unter dem Motto: „Es muss im Leben noch mehr als alles geben“ haben sich wahrscheinlich viele von Ihnen mittels der Fastenpredigten auf einen Weg gemacht, der durch die Bußzeit auf Ostern zielt.
Zum Abschluss dieser Reihe von ignatianischen Impulsen, möchte ich Ihnen von einer ganz eigenen Wegerfahrung erzählen, die mich im Noviziat tief geprägt hat und die mir auch heute noch wichtig ist.
„In den Schuhen des Pilgers“ machte ich eine Wallfahrt zu seinem Grab. Er selber hat sich immer wieder als Pilger bezeichnet, und in Ihrer Kirche hängt ein Bild von ihm mit dem Titel: „Der Pilger von Manresa" – Ignatius von Loyola. In Auseinandersetzung mit ihm habe ich gelernt, was es bedeutet, sich bedingungslos der Führung Gottes anzuvertrauen.

Schriftlesung    Ps 84
(in Auswahl und eigener Übersetzung)

Wie liebenswert ist deine Wohnung,
du Herr der Scharen!
Meine Seele verzehrt sich in Sehnsucht
nach dem Tempel des Herrn.
Mein Herz und mein Leib jauchzen ihm zu,
ihm, dem lebendigen Gott.
Auch der Sperling findet ein Haus
und die Schwalbe ein Nest
um die Jungen zu hegen bei deinen Altären.
Herr der Scharen, mein Gott und mein König,
selig, die in deinem Haus wohnen,
sie dürfen dich allezeit preisen.
Selig die Menschen, die Kraft finden in dir,
wenn sie sich zur Wallfahrt rüsten.
Wandern sie durchs trostlose Tal,
wird es für sie zum Quellgrund,
und Frühregen hüllt es in Segen.
Sie schreiten dahin mit wachsender Kraft;
dann schauen sie Gott auf dem Zion.

Predigt
Alles beginnt mit der Sehnsucht,
immer ist im Herzen Raum für mehr,
für Schöneres, für Größeres.

So schreibt Nelly Sachs und sie folgt damit der Erfahrung eines Dichters, der vor 2500 Jahren diesen 84. Psalm geschrieben hatte, der uns eben vorgetragen und vorgebetet worden ist.

Psalm
Dieser Dichter war ein Pilger, einer, der die Wallfahrt hinauf nach Jerusalem unternahm.
–    Ganz am Anfang seines Unternehmens stand die Sehnsucht: Meine Seele verzehrt sich in Sehnsucht. Und er fährt fort: In Sehnsucht nach dem Tempel des Herrn. Für ihn gab es also einen Ort, von dem er annahm, dass dort seine Sehnsucht zur Ruhe kommen würde. Das Ziel seiner Wallfahrt war der Tempel, das Heiligtum mitsamt seinen Altären; der Ort, an dem die Gegenwart Gottes thronte.
–    Als zweites entschloss er sich dazu, diesen Weg zu gehen. Er rüstete und stattete sich aus für die Wallfahrt. Doch das Rüstzeug waren für ihn keine äußerlichen Dinge,
sondern die Tatsache, dass er Kraft dazu fand in Gott.
–    Erst dann begab er sich auf den langen Weg; und er machte die Erfahrung, dass er mit wachsender Kraft dahinschritt, obwohl es doch ziemlich beschwerlich wurde.
–    Schließlich erreichte er Jerusalem. Er hatte sich der Hilfe Gottes anvertraut
und durfte ihn nun schauen, durfte wohnen in seinem Haus und ihn preisen.
Liebe Schwestern und Brüder, den Psalm 84 kenne ich schon seit meinem Studium, doch so richtig hat er sich mir erst erschlossen, als ich eine eigene Wallfahrt machte. Oder andersrum: Nach meiner Wallfahrt konnte ich mithilfe dieses Psalmes erst so richtig verstehen, was hinter den Erfahrungen steckte, die ich auf meinem Pilgerweg gewonnen hatte.

Eigene Erfahrung als Novize: Pilgerexperiment
Im Hitze-Sommer 2003 wurde ich als Novize der Gesellschaft Jesu auf ein Pilgerexperiment nach Italien geschickt. Zu Fuß, alleine, ohne Geld und mit spärlichen Italienisch-Kenntnissen sollte ich eine Wallfahrt von Florenz nach Rom machen. Das Ziel war das Grab unseres Vaters Ignatius von Loyola, welches sich in der Kirche il Gesù befindet.
Die Idee, die dahintersteckt, ist die, dass jeder Novize – bevor er das Gelübde der Armut ablegt – einmal selber eine existentielle Erfahrung von Armut machen soll. Wie fühlt es sich an, wenn man in die Fremde geschickt wird? Wie geht es einem, wenn man bedürftig ist, wenn man nichts hat und um den täglichen Lebensunterhalt, das tägliche Brot bitten und betteln muss? Was geschieht mit einem, wenn man sich ganz und gar der Führung Gottes anvertraut und sich in die Hände von Menschen gibt, die man eben erst getroffen und kennengelernt hat?

 
Pilgerexperiment
Ich lade Sie ein – mit dem Psalm im Gepäck –, gemeinsam mit mir ein Stück dieses Weges zu gehen.
Auch bei meiner Pilgerreise stand am Anfang die Sehnsucht. Die Sehnsucht, als Novize, als kleiner Gefährte Jesu, das Grab unseres Ordensgründers Ignatius aufzusuchen und dort den Herrn zu loben, ihm zu danken, und ihn zu bitten, mich in seinen Dienst aufzunehmen.
Als ich mich für die Wallfahrt rüstete, stellte ich fest, dass ich nicht nur meinen Rucksack packte, sondern dass mein eigentliches Rüstzeug die großen Exerzitien waren, die ich kurz davor gemacht hatte. Die Kraft und die Klarheit, die mir dort geschenkt worden waren, sollten mich auch jetzt auf meiner Pilgerschaft begleiten.
Von meinen Wegerfahrungen könnte ich nun stundenlang erzählen; von der Gastfreundschaft und der Herzlichkeit der Italiener, von meiner ersten Bettelei oder den abenteuerlichen Plätzen, die ich zum Übernachten fand. Lustige, skurrile und überraschende Begebenheiten könnte ich zum Besten geben, von Begegnungen mit Menschen, die mich glücklich machten oder davon, dass mir der Begriff Vorsehung so wichtig wurde. Von alldem könnte ich erzählen und Zeugnis dafür ablegen, dass Gott mich auf meinem Weg geführt hatte.
Doch ich will unsere Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenken und Ihnen einen kurzen Abschnitt aus meinem Tagebuch vorlesen, ein paar Zeilen, die von den Beschwernissen berichten und die vielleicht ahnen lassen, dass der Psalmist Recht behält, wenn er sagt: Sie schreiten dahin mit wachsender Kraft.

21. Tag von Palidoro nach Anguillara:
Über die Strecke ist nicht viel zu berichten: Immer entlang der Straße, die sich als größer und befahrener herausstellte, als es die Karte vermuten ließ. Die erste Hälfte ging es stetig bergauf, glücklicherweise nur sanft. Ja und dann war die Strecke einfach lang! Knapp 24km in etwas weniger als fünf Stunden, eine kurze Frühstückspause bereits eingerechnet. Bei allem begleitete mich – im Rhythmus des Atmens und der Schritte – das Jesusgebet, was ungeheuerlich half, in der Hitze und bei der Anstrengung durchzuhalten.
Unterwegs kam mir das erste Mal so richtig der Gedanke daran, aufhören zu wollen. Ich hatte genug. Das mit dem Laufen war es nicht einmal, sondern zum einen die ständige Getriebenheit und das Ungesichertsein – bei aller Führung und Vorsehung, die Gott mir bis zum heutigen Tag hatte zuteil werden lassen. Zum anderen waren es die drei Wochen Einsamkeit – auch wenn ich immer wieder Menschen traf, mit denen ich mich kurz unterhalten konnte oder solche, die mir etwas gaben beziehungsweise die mich sogar gastfreundlich aufnahmen.
Jedoch wie bei den 'Großen Exerzitien' scheint es gerade an diesem Punkt, – welcher Wüste und Krise zugleich ist –, wichtig zu sein, weiterzumachen und weiterzugehen und noch mehr an die Führung und Gegenwart Gottes zu halten.

Ankunft – am Ziel der Sehnsucht
Nach 25 Tagen erreichte ich das Ziel meiner Wallfahrt. Völlig erschöpft und zugleich völlig glücklich stand ich vor der Fassade der Kirche il Gesù. Sie können sich vorstellen, dass mir etliche Bilder und Eindrücke durch den Kopf gingen, die ich auf meinem langen Weg gesammelt hatte. Ich dachte an die vielen Menschen, die mir begegnet waren und hörte sie nocheinmal zu mir sagen „Sie gehen diesen Weg eigentlich auch für mich!“, - „Nehmen Sie mich mit auf Ihrem Weg!“, „Beten Sie für mich am Grab des Heiligen Ignatius!“
Das tat ich, als ich eintrat und ich spürte, dass jede Erinnerung mehr war, als ein Film, den man vor seinem inneren Auge abspult. Alles war Gebet: Ich dankte für die Führung und lobte Gott für seine ständige Gegenwart.
Die paar Tage, die ich noch in Rom blieb, nutzte ich dazu, bedeutsame Orte und Kirchen aufzusuchen. Dabei betrat ich allerdings meist mehr den Tempel meines Herzens, um das nachklingen zu lassen, was ich erlebt und erfahren hatte. Im Kolleg das zur Kirche il Gesù gehört, besichtigte ich auch die Camerette, die Kämmerchen des Ignatius. Von dort aus leitete er den aufstrebenden Orden und in ihnen verbrachte er die letzten Tage seines Lebens. Als ich in einer Vitrine seine abgetragenen Schuhe sah, war mir irgendwie klar: Ich war „in den Schuhen des Pilgers“ gegangen.

Ignatius der Pilger
Liebe Schwestern und Brüder, vielleicht habe ich etwas zu lange über meine Pilgerreise berichtet, aber mir war es wichtig, Ihnen davon zu erzählen, wie es ist, eine Sehnsucht zu haben, sich zu rüsten, loszugehen, durchzuhalten und letztlich am Ziel seiner Sehnsucht anzukommen.
Für mich ist das ein Bild für die Nachfolge Jesu Christi. Ignatius von Loyola hat sie vor fast 500 Jahren angetreten, als Pilger, so wie er sich am liebsten selber bezeichnete. Seine Sehnsucht war Jerusalem, eine Wallfahrt ins Heilige Land. Sein Rüstzeug waren die geistlichen Erfahrungen, die er vor allem in Manresa gemacht hatte. Sein Weg führte ihn zwar nach Jerusalem, jedoch nicht dauerhaft. Über Umwege gewann er Gefährten, die sich ihm anschlossen. Und sein Ziel fand er schließlich, als er entdeckte, dass es nicht um Jerusalem geht und dass es sich auch um sonst keinen äußeren Ort handelt, sondern dass allein im eigenen Herz, das Ziel aller Sehnsucht zu suchen und zu finden ist.
– Alles beginnt mit der Sehnsucht,
immer ist im Herzen Raum für mehr,
für Schöneres, für Größeres.

Lassen Sie mich zum Schluss den Bogen spannen; hin zu drei Arten von Menschen, wie sie uns heute begegnen:

Die Wallfahrt als Weg ins Innere
Als erstes fallen mir die Menschen ein, die sich in letzter Zeit auf einen konkreten Pilgerweg begeben. Immer mehr brechen Richtung Santiago de Compostella auf, aber auch sonst scheint das Wallfahren wieder im Aufwind.
Wenn Sie diese Menschen fragen, dann werden auch sie – ähnlich wie ich es gerade selber getan habe –, von ihrer Sehnsucht berichten. Sie suchen etwas außer sich: meistens Ruhe und Frieden, Glaube und Vertrauen, oder dass sie geführt oder geheilt werden. All jene die dabei Strapazen überwinden und Rückschläge verkraften, – die also dahinschreiten mit wachsender Kraft –, sind meist überrascht, wenn sie feststellen: Diese Dinge finde ich nicht an irgendwelchen Wallfahrtsorten, sondern im Tempel meines eigenen Herzens.
Ich kann Sie, Liebe Schwestern und Brüder, jedenfalls nur ermuntern, solch einen äußeren Weg einmal zu wagen, einen Pilgerweg, der zu einem inneren Weg wird und zu einem inneren Ziel führt.

Die Fastenzeit als Weg zur Feier der Auferstehung
Als zweites kommen mir die Menschen in den Sinn, die sich in den letzten Tagen und Wochen ganz bewusst auf einen Weg durch die Fastenzeit gemacht haben.
Deren Sehnsucht besteht vielleicht darin, sich von ihren ungeordneten Anhänglichkeiten lösen zu wollen, um als freie, fröhliche und lebendige Menschen Ostern feiern zu können. Das Rüstzeug, das diese Menschen brauchen, besteht aus dem Gebet, aus dem Fasten, wie es Gott gefällt und vielfach daraus, dass sie das Sakrament der Versöhnung feiern. Auch sie wandern durch das trostlose Tal, besonders dann, wenn sie sich den dunklen Seiten ihres Lebens stellen. Doch genau dann schreiten sie dahin mit wachsender Kraft.
Wer einen solchen Weg schon einmal intensiv beschritten hat, der weiß, dass dieser Weg durch das Kreuz hindurch führt. Man erfährt, dass man befreit wurde und erlöst ist und endlich einstimmen kann in das freudvolle Osterlob.

Das Leben als Wallfahrt zur ewigen Osterfreude
Als letztes denke ich an Menschen, die kurz vor dem Ende ihrer irdischen Pilgerschaft stehen; Menschen die zum Urbild der Sehnsucht werden können.
Der gläubige Mensch sehnt sich zwar auch danach, dass er von seinen Schmerzen erlöst wird, mehr jedoch sehnt er sich nach dem ewigen Leben. Die letzte Reise, die ein Sterbender antritt, führt ihn von der Angst, durch die Einsamkeit bis in den Tod. Sein Rüstzeug ist das unerschütterliche Rufen nach Gott, und seine Wegzehrung ist die Liebe, die er gegeben und die er empfangen hat. Als Pilger war er unterwegs, sein Leben lang. Am Ende überschreitet er die fernsten Horizonte und tritt hinein ins Licht der aufgehenden Ostersonne. Dort wird der Raum seines Herzens von der göttlichen Liebe ganz und gar durchdrungen und er schaut Gott auf dem Zion.

Liebe Schwestern und Brüder, wir sind eingeladen, Jesus Christus nachzufolgen. Trauen wir unserer Sehnsucht und rüsten wir uns für den Weg. Brechen wir auf und schreiten wir dahin mit wachsender Kraft. Dann dürfen wir wie Papst Paul VI. voller Überzeugung und Begeisterung sagen: „Wir alle sind und bleiben Pilger, die sich aufmachen, Gott im menschlichen Herzen zu suchen und zu finden.“ Amen.

 
Segen
Gott, du bist uns voraus
und lässt dich nicht binden.
Gefährte der Wandernden,
lock uns,
und wir werden es wagen,
über das hinauszugehen,
was wir festgelegt haben.
Neuland werden wir entdecken
und andere Horizonte.
Pilger und Pilgerin,
erhebe deine Augen zu den Bergen.
Volk ohne Grenzen,
suche Gottes Spur in allen Dingen.