Predigt zum 5. Fastensonntag (C)
am 21. März 2010
Lesung:  Jes. 43, 16 - 21
Evangelium:  Joh. 8, 1 - 11
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Das heutige Evangelium reizt natürlich dazu,
Parallelen zur aktuellen Mißbrauchsdebatte zu ziehen,
und diese Debatte auch ein wenig kritisch unter die Lupe zu nehmen.
Selbstverständlich geht es im Evangelium um einen “Fall”,
der unter vieler Rücksicht anders gelagert ist.
Dennoch lassen sich daraus einige - wie mir scheint -
hilfreiche Beurteilungskriterien gewinnen.

Natürlich ist uns Jesus vertraut als jemand,
der sich immer und immer wieder den “Opfern” zuwendet.
Gerade den Kindern wendet Er sich liebevoll zu -
und das nicht, weil sie “die lieben Kleinen” sind,
sondern weil sie “Opfer” einer Gesellschaft sind,
in der sie keine Rechte haben und schon gar nicht das Recht,
Kinder zu sein.

Auf heute bezogen, muß sich also die Kirche
- will sie wirklich die Kirche Jesu Christi sein -
konsequent auf die Seite der mißbrauchten Kinder
und Jugendlichen stellen.
Es wird endlich Zeit, umzukehren
und die Rücksicht auf den eigenen “Ruf”
zu ersetzen durch Rücksicht und Fürsorge für die Mißbrauchsopfer.

Im heutigen Evangelium geht es nun aber um eine Frau,
die des Ehebruchs beschuldigt wird.
Sie ist also in den Augen ihrer Mitmenschen eine “Täterin”.
Und sollte sie zu Recht beschuldigt werden,
hat sie wohl auch Menschen zu “Opfern” gemacht:
Ihrem Mann hat sie “Hörner aufgesetzt”
und möglicherweise ihre Kinder im Stich gelassen.

Jesus sieht diese Frau allerdings selbst als “Opfer” -
als Opfer einer unbarmherzigen Männer- und Machowelt.
Sie wurde “ertappt” - heißt es.
Nun ist es in meinen Augen schwer vorstellbar,
daß dem wirklich so ist.
Sicher ist nur, daß sie beschuldigt wird -
wahrscheinlich zu Recht; aber wer weiß das schon?

In unserer Rechtsordnung gilt jedenfalls der Grundsatz:
Jeder hat als unschuldig zu gelten,
solange seine Schuld nicht nachgewiesen ist.
In der Regel halten sich auch unsere Medien
strikt an dieses Prinzip
und sprechen von “Beschuldigten”
oder von “mutmaßlich” Schuldigen.
Sie wissen, warum!
Lediglich in der augenblicklichen Situation
sprechen sie ungeprüft von “Tätern”,
obwohl wenigstens in einigen Fällen unter den Anklägern
auch “Trittbrettfahrer” zu vermuten sind,
und obwohl der ein oder andere Fall
von “unklugem Verhalten” oder “Belästigung”
zum “Mißbrauch” hochstilisert wird.

Für Jesus scheinen solche Differenzierungen keine Rolle zu spielen.
Er stellt sich einfach vor diese Frau
mit der Aufforderung “Wer von euch ohne Sünde ist,
werfe als erster einen Stein auf sie.”

In der aktuellen Diskussion habe ich dieses Wort Jesu
leider noch nicht zitiert gefunden,
obwohl es sicher angebracht wäre:
•    Ich denke da z.B. an die unzähligen Film-Machwerke
    unter dem Titel “Schulmädchenreport”,
    die unterschwellig eine Art Einladung zum Mißbrauch waren.
    Die liefen unangefochten in unzähligen deutschen Kinos
    gerade zu jener Zeit, um die es vor allem geht.
•    Ich denke auch an den Sex-Tourismus jener Jahre,
    der erst nach langer Zeit
    von den betroffenen Ländern selbst gestoppt wurde,
    nicht jedoch durch die Politik hier bei uns.
•    Ich denke auch daran,
    wie schwer sich unsere ach so liberale Politik tut,
    Mißbrauchsseiten im Internet zu sperren oder zu löschen.

Mir scheint, Jesus wandte sich mit Seinem Wort vom “ersten Stein”
nicht nur gegen die Vorverurteilung der Frau,
sondern mehr noch gegen diese Scheinmoral
von Pharisäern - damals wie heute.

Sodann sollten wir - glaube ich - nachdenken
über das eindringliche Schweigen Jesu!
In unserer geschwätzigen Zeit
meint jeder, auch er müsse noch seinen Senf dazugeben.
Es gilt offenkundig der fragwürdige Satz:
“Wer schweigt, macht sich mitschuldig.”
Seit Wochen schon wird auch noch der Papst bedrängt,
endlich “etwas zu sagen”.
Als ob der nicht schon genug gesagt hätte -
und das in aller Klarheit!
Ich werde den Eindruck nicht los,
daß da mancheiner nur darauf wartet,
sich wie ein Raubvogel auf ein Wort des Papstes zu stürzen -
was auch immer er sagen mag.

Noch einmal zurück zu den Pharisäern,
die ja bei uns heute nicht in sehr gutem Ruf stehen.
Die Pharisäer damals ließen sich jedenfalls
in der geschilderten Situation
von Jesus zu einer eigenen Gewissenserforschung anregen,
wurden recht kleinlaut und zogen sich still zurück.
“Jesus blieb also allein zurück mit der Frau
und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie geblieben?
Hat dich keiner verurteilt?
Auch ich verurteile dich nicht.”

Allerdings fügte Jesus noch hinzu:
“Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!”
Konkret heißt das natürlich heute:

Tue alles, was nur irgendwie denkbar ist,
um die Sünde zu meiden:
•    Unterziehe Dich selbstverständlich einer Therapie.
•    Lerne, mit einer nicht korrigierbaren Veranlagung so zu leben,
    daß niemand geschädigt wird.
•    Halte dich rigoros fern von Tätigkeiten,
    die dich mit Kindern oder Jugendlichen zusammenbringen könnten
    und daher für andere und auch für dich selbst zu Gefahr würden.

Und selbstverständlich muß auch die Kirche,
wenn es um Priester oder kirchliche Mitarbeiter geht,
alles auch nur irgendwie Mögliche tun,
um all das sicher zu stellen.
Dazu gehört in einem Rechtsstaat auch,
im konkreten Fall die Staatsanwaltschaft einzuschalten.

Wohlgemerkt: Es geht ohne Wenn und Aber um Gerechtigkeit -
um Gerechtigkeit vor allem für die “Opfer”,
aber eben auch für die “Täter”.
Wie es keine “doppelte Moral” geben darf,
darf es auch keine “doppelte Gerechtigkeit” geben!

Darüber hinaus ist die Kirche Jesu Christi
allerdings auch dem Prinzip der “Barmherzigkeit” verpflichtet.
Auch diese Barmherzigkeit gilt zunächst für die “Opfer”:
Die Gerechtigkeit hat ihre Grenzen.
Verjährungsfristen verstreichen,
nicht alle sinnvollen Hilfen und Entschädigungen
können gesetzlich geregelt sein.
Da ist in vielen Fällen “Barmherzigkeit” gefordert -
und das erst recht von der Kirche.

Aber dieses Prinzip der Barmherzigkeit
gilt eben auch für die “Beschuldigten”
und selbst für diejenigen, die sich als “Täter” bekennen
oder als solche überführt werden.
Schon aus Gründen der Gerechtigkeit geht es nicht an,
zu Unrecht Beschuldigte auf Dauer zu brandmarken
nach dem Erfahrungssatz:
“Semper aliquid haeret”.

Die Barmherzigkeit fordert darüber hinaus,
auch den Schuldigen nicht vom Leben abzuschneiden,
sondern ihm neue Chancen zu eröffnen -
seine “Umkehr” vorausgesetzt.

Die aktuelle Konfrontation der Kirche
mit Fällen des sexuellen Mißbrauchs über viele Jahre hinweg
und mit deren Verschleierung und Vertuschung
macht deutlich, wie sehr diese Kirche und damit wir alle
uns rückbesinnen müssen auf unsere Sendung,
mit zu bauen am verheißenen und kommenden Reich Gottes.
Wir sind fürwahr noch weit davon entfernt!
Dennoch dürfen wir nicht frustriert aufgeben,
sondern hoffnungsvoll auf das Wort der Lesung vertrauen:
“Seht her, nun mache ich etwas Neues.
Schon kommt es zum Vorschein, merkt ihr es nicht?
Ja, ich lege einen Weg an durch die Steppe
und Straßen durch die Wüste.”

Amen.