Predigt in der Auferstehungsmesse für Georg Weinrich
am Dienstag, dem 25. März 2014, in Sankt Michael Göttingen
Lesung: Hebr. 11,8-10.13-16
Evangelium: Matth. 25, 13-28
Autor: P.Heribert Graab S.J.
1.    Immer wieder kreisen die Gedanken von Papst Franziskus
um die Rolle der Armen in unserer Mitte.
Er regt uns an, von den Armen zu lernen -
und das nicht zuletzt für ein eigenes sinnerfülltes Leben
und für einen an Jesus orientierten Glauben.

Wir nehmen heute Abschied von Georg Weinrich.
Nahezu zwanzig Jahre lebte er hier in unserer Mitte.
Er war einer dieser ‚Armen‘,
die unserem Papst Franziskus so ans Herz gewachsen sind.
Und rückblickend muß ich bekennen:
Ich habe ihn ins Herz geschlossen und enorm viel von ihm gelernt.

Wo anfangen?
Georg war durch und durch geprägt
vom sogenannten ‚Milieukatholizismus‘ des Eichsfeldes.
Aber er hat keineswegs nur gute Erfahrungen gemacht mit der Kirche.
Nicht nur einmal hat er von den Ohrfeigen erzählt,
die ihm der Pfarrer in der Sakristei verpaßte.
Ich habe gelernt: Schon damals, als Ohrfeigen
noch selbstverständliches Erziehungsmittel waren,
verletzten sie ein Kind und hinterließen Narben.

Schlimmer waren die Erfahrungen,
die seine Mutter als alleinstehende Frau
und als arme und im Grunde rechtlose Magd
auf dem Klostergut in Burgwalde machen mußte.
Georgs Erzählungen aus dieser Zeit
spiegelten noch etwa 50 Jahre später
die Enttäuschung und manchmal auch die Wut darüber,
daß sich ausgerechnet Nonnen
wie Gutsherrinnen alten, autoritären Stils verhielten.
Er klagte nicht darüber, daß er selbst ausgebeutet worden war;
wohl aber klagte er die Nonnen an wegen der Art und Weise,
mit der sie seine Mutter behandelt hatten.

Gelernt habe ich, wie sehr Ungerechtigkeit Menschen zutiefst verletzt.
Bewundert habe ich Georgs Fähigkeit zu differenzieren,
und das Verhalten einzelner nicht schlechthin der Kirche anzulasten. 

Georg hatte eine eher bescheidene Schulbildung,
aber er las viel, fragte und hinterfragte viel.
So war er ein anregender Gesprächspartner.
Ich erinnere mich, daß z.B. P.Georg Muschalek
oft und lange mit ihm auf dem Hof zusammen saß,
und daß beide Georgs - so unterschiedlich sie auch waren - 
intensiv in viele Gespräche versunken waren.
Gelernt habe ich, daß ‚soziale Unterschiede‘
nicht wie Mauern zwischen Menschen stehen müssen,
daß vielmehr ein anregendes und bereicherndes Miteinander
möglich ist.

2.    Die Lesung aus dem Hebräerbrief habe ich
für diesen Gottesdienst gewählt wegen des Stichwortes „Heimat“,
um das der Text kreist.
Wie Abraham war Georg ein Mensch ‚unterwegs‘.
Es war ihm schwer gefallen, sein Eichsfeld zu verlassen,
und Gedanken und Gespräche kreisten immer wieder um Burgwalde.
Einmal hatte ihn schon das Heimweh dorthin zurückgetrieben;
dann aber beschloß er doch in einem zweiten Anlauf,
endgültig, in den Westen ‚rüber zu machen‘.
Allerdings blieb er hier - aus den verschiedensten Gründen -
ein ‚Fremdling‘ und landete schließlich sogar
als Obdachloser ‚auf der Straße‘.

Nicht nur die winterliche Kälte,
sondern – ich bin sicher – auch der tief eingepflanzte Glaube,
sowie eine innere Beziehung zur Kirche 
-  mochte die auch zeitweise in den Hintergrund geraten sein -
ließ ihn schließlich Unterschlupf suchen in einer Kirche,
in Sankt Michael.
Es brauchte einige Zeit, bis schließlich aus der Zuflucht vor der Kälte
nach und nach ein zweites Zu-Hause wurde.
Es brauchte nicht weniger Zeit, bis sich auch die Beter in unserer Kirche
an den ‚Fremden‘ gewöhnt hatten und ihn akzeptierten.

So nach und nach lernten wir Georg ein wenig kennen,
und wir erfuhren, daß er keine Papiere mehr besaß.
Mehr noch: Es stellte sich heraus,
daß in unserem so bürokratisch-peniblen Deutschland
ein Mensch regelrecht in die Nicht-Existenz abgleiten kann.
Diese Erkenntnis hat mich regelrecht erschüttert.
Es ging nicht nur darum, neue Papiere zu beschaffen;
vielmehr mußte unser Diakon damals
Georg Weinrich sozusagen aus dem ‚Nichts‘
eine neue Identität verschaffen – ein wahrhaft mühsamer Prozeß!
Aber parallel dazu wurde Sankt Michael für Georg
mehr und mehr auch menschlich zur ‚Heimat‘.
Irgendwann - viel später - sagte er mir in einem persönlichen Gespräch:
„Hier in Sankt Michael verbringe ich
die glücklichste Zeit meines Lebens!“

Und zweifelsohne war Georg auch umgekehrt
ein Glücksfall für Sankt Michael.
Nicht nur seine engagierte Mitarbeit,
seine Fähigkeit anzupacken
und seine unbedingte Zuverlässigkeit
waren ein Geschenk für die Gemeinde.
Zum ‚Glücksfall‘ wurde er viel mehr noch dadurch,
daß er als Mensch einfach ‚da‘ war,
daß er Zeit hatte für andere,
daß er zuhören konnte, daß er half, wo er konnte,
und daß er wesentlich dazu beitrug,
Sankt Michael und ganz konkret den Hof der Kirche
auch für andere zur ‚Heimat‘ zu machen.

Ich bin überzeugt, Gott selbst hat ihn - gewiß auf mühsamen Wegen -
hierher geführt.
Am vergangenen Mittwoch nun hat ER ihn
auch endgültig heimgerufen in jene ‚himmlische‘ Stadt,
„die Gott selbst geplant und gebaut hat“.
Jedenfalls ist für Georg Weinrich
das abschließende Wort des Evangeliums gesagt:
„Sehr gut, du bist ein tüchtiger und treuer Diener.
Du bist im Kleinen ein treuer Verwalter gewesen,
ich will dir eine große Aufgabe übertragen.
Komm, nimm teil an der Freude deines Herrn!“

Amen.