Predigt zum 3. Fastensonntag (C) 
am 14. März 2004
Lesung: Ex. 3, 1-8a. 10. 13-15
Evangelium: Lk. 13, 1-9
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Katastrophen-Journalismus ist nicht erst eine Erfindung unserer Zeit.
Was heute zumal Boulevard-Zeitungen breittreten,
ging zur Zeit Jesu wie ein Lauffeuer von Mund zu Mund:
Und es klang damals, wie es auch heute noch klingt:
„Hast du schon gehört...?
Das ist ja furchtbar!"

„Hast du schon gehört, was dieser Unmensch Pilatus wieder angerichtet hat?
Eine Pilgergruppe von Galiläern hat er beim Opfern im Tempel umbringen lassen!
Dem ist auch nichts heilig!
Das Blut der Opfertiere vermischte sich mit dem der Menschen!
Furchtbar!"

„Hast du schon gehört, was da beim Bau der Wasserleitung in Jerusalem passiert ist?
Der Stadtturm am Teich Schiloah ist eingestürzt
und hat gleich achtzehn Menschen erschlagen.
Unbeteiligte waren darunter und sogar Kinder!
Wie schlimm es doch in dieser Welt zugeht!"

Hast du schon gehört...?
Dieser Dutroux in Belgien -
wie pervers Menschen doch sein können!
Und dann noch dieser unvorstellbare Terroranschlag in Madrid!
Ehrliche Betroffenheit und spontane Hilfsbereitschaft auf der einen Seite.
Dann aber auch Katastrophen-Journalismus und Sensationslust.

All das betrachten wir - damals wie heute - letztendlich
aus der Perspektive unbeteiligter Zuschauer.
Anders, wenn wir selbst und unmittelbar betroffen sind:
Wenn eine heimtückische Krankheit uns selbst oder auch einen nahen Angehörigen
unerwartet trifft und unser Leben total verändert
und all unsere Hoffnung und unsere Zukunftspläne zerstört.

Dann dreht sich alles im Kreis 
um die bohrende Frage: Warum???
Warum gerade ich? 
Warum gerade jetzt, da ich doch so dringend gebraucht werden?
Warum tut Gott mir das an?
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"
Warum hörst du nicht mein inständiges Beten?

Die Pharisäer der Zeit Jesu hatten auf die Frage nach dem unerklärlichen Leid
nur eine Antwort: 
Jedes Leid ist untrügliches Zeichen des Sünders,
wie umgekehrt auch Wohlergehen untrügliches Zeichen des Frommen ist.
Schon die Freunde des Ijob vertraten diesen Vergeltungsglauben:
„Wer geht ohne Schuld zugrunde?
Wo werden redliche im Stich gelassen?
Wer Unrecht pflügt, wer Unheil sät,
der erntet es auch!" (Ijob 4, 7).

Dieser Vergeltungsglaube jedoch konnte schon damals 
der Lebenserfahrung nicht standhalten:
Da war also diese Pilgergruppe aus Galiläa.
Das waren offenkundig fromme Menschen.
Gesetzestreu hatten sie sich auf den mühsamen 
Pilgerweg nach Jerusalem gemacht.
Mit ihren Opfern verehrten sie den Gott Israels.
Und ausgerechnet sie werden am Altar niedergemetzelt! 
Wie kann ein gerechter Gott das zulassen???

Mit dieser Frage und mit diesem Zweifel
wird nun Jesus konfrontiert.
Und Jesus reagiert, indem er zunächst einmal
diesen automatische Schuld-Strafe-Zusammenhang auflöst: 
„Meint ihr etwa, nur diese Galiläer waren Sünder?
Meint ihr etwa, nur die Erschlagenen vom Schiloah 
hatten Schuld auf sich geladen?"

Und dennoch klammert Jesus Schuld nicht einfach aus!
Er nimmt vielmehr die Katastrophen zum Anlaß
für einen Mahnruf an alle Umstehenden:
„Ihr alle werdet genau so umkommen,
wenn ihr euch nicht bekehrt!"

Es hat nicht „die anderen" erwischt,
weil sie es verdient haben,
weil sie irgendwie ihren Teil dazu beigetragen haben
und also selbst schuld sind.
Vielmehr hat es „die anderen" erwischt,
wie es uns alle erwischen wird,
wenn wir unser Leben nicht ändern.

Und diese Perspektive ließe sich wahrhaftig gerade heute
durch viele Beispiele plausibel machen:
Unser eigenes Verhalten
und die Wirtschaft und Politik, in die wir selbst verwoben sind,
sind längst auf das engste verschränkt mit der Unheilssituation dieser Welt.
Wer kann sich selbst z.B. schon ganz von Schuld freisprechen,
wenn wir auf einmal erkennen, 
• daß wir lange über unsere Verhältnisse gelebt haben,
• daß unsere Ansprüche nicht mehr finanzierbar sind,
• daß die Schere zwischen Reich und Arm 
auch bei uns immer weiter auseinandergeht,
• daß fast jeder vor allem an sich selbst und an sein Fortkommen denkt,
• daß Kinder in dieses Konzept nicht reinpassen,
• daß deshalb die Bevölkerungspyramide auf dem Kopf steht
• und daß auch deshalb unser Rentensystem ins Trudeln geraten ist.

Jesus bleibt nicht stehen bei der Frage nach den Ursachen von Leid und Elend.
Er richtet vielmehr den Blick der Umstehenden
auf die Zukunft der Lebenden:
Sie müssen die Perspektive der unbeteiligten Zuschauer verlassen,
weil sie selbst vom unheilvollen Geschehen mit betroffen sind.
Menschen, die nur zuschauen, verändern nichts -
weder bei sich selbst, noch in dieser Welt.
Menschen, die nur zuschauen, sind keine Hilfe.

Jesus erzählt das Gleichnis vom Winzer:
Der engagiert sich bis zum äußersten 
für den von der Axt bedrohten Feigenbaum.
Er engagiert sich einmal durch seine „Fürbitte".
Das erinnert beispielsweise an die eindringliche Fürbitte des Abraham
für die bedrohten Einwohner von Sodom.
Der Winzer engagiert sich darüber hinaus mit Hand und Fuß.
Er tut, was er tun kann, für diesen Baum:
mit Spaten und Dünger und jeder nur denkbaren Pflege.

Natürlich erscheint hinter dem Bild des Winzers
das Bild Jesu selbst und seiner Lebenspraxis:
Er schafft nicht generell das Leid ab,
aber er tut, was ein Mensch tun kann:
Er tröstet und heilt,
treibt „Dämonen" aus und mahnt zur Umkehr.
Er ruft Menschen in seine Nachfolge
und sendet sie, zu heilen und das Evangelium 
vom anbrechenden Gottesreich zu verkünden.
Er lädt sie ein, es dem Winzer gleich zu tun:
Im Gebet den Himmel zu bestürmen um eine „Gnadenfrist"
und zugleich mit Hand und Fuß sowohl gegen die Sünde,
als auch gegen das Leid anzugehen.

Umkehr heißt nicht,
Unbeteiligt bleiben und hoffen: Mich wird es schon nicht treffen,
und denken: Ich kann ja sowieso nichts ändern.

Umkehr heißt vielmehr,
wie der Winzer - wie Jesus - sich einsetzen,
damit andere - Mensch und Natur - leben können.
Oder wie Mose die Berufung Gottes zu hören:
„Geh, und befreie dein Volk!"
Höre nicht nur - wie Gott - „das Klagen des Volkes",
sondern tue, was du tun kannst,
und folge dem Ruf.
Vertraue darauf:
„Ich bin da" - auch im tiefsten Elend des Volkes.
Gott ist der „Ich bin da" - wo Menschen wie Mose bereit sind,
sich in die Perspektive Gottes hineinnehmen zu lassen
und für andere befreiend dazusein.

Der Kontext des heutigen Evangeliums
ist die andrängende Leidensgeschichte Jesu.
Und dieser Kontext bringt noch andere Perspektiven ins Spiel:
Solidarität mit den Leidenden führt ganz schnell
auch den auf einen Kreuzweg, der sich auf die Seite der Kreuztragenden stellt.
Jesus geht diesen Weg der Solidarität bis zur letzten Konsequenz
und wird so zum „Erlöser" der schuldbeladenen und leidgeprüften Menschheit.

In seiner dunkelsten Stunde scheint er zwar selbst 
in den Sog der unfruchtbaren Frage nach dem „Warum" zu geraten. 
Bei genauerem Hinsehen auf den griechischen Text jedoch stellen wir fest:
Die Frage Jesu am Kreuz lautet genau genommen nicht
„Warum hast du mich verlassen?", sondern
„Wozu hast du mich verlassen?" ( ; )

Das Warum führt dazu,
daß wir uns fruchtlos im Kreise um uns selbst und um unser Leid drehen.
Das Wozu dagegen öffnet unseren Blick
für eine neue und befreite Zukunft;
das Wozu ermutigt uns, Frucht zu bringen.
Und darauf allein kommt es an -
das lehrt uns das Gleichnis vom Feigenbaum.

Sowohl das Beispiel des Mose,
als auch das Beispiel Jesu zeigen:
Ein Perspektivenwechsel ist in der Lage,
eine leidvolle Situation in ihr Gegenteil zu verkehren:
Aus der Unterdrückung Israels in Ägypten
führt Mose das Volk „in das Land der Verheißung".
Aus der Dunkelheit des Karfreitags
führt Jesus uns in das helle Licht des Ostermorgens.

Amen.