Predigt zum 5. Fastensonntag (C) 
am 28. März 2004
Lesungen: Jes. 43, 16-21 und Phil. 3, 8-14
Autor: P.Heribert Graab S.J.
„Denkt nicht mehr an das, was früher war!
Seht her, nun mache ich etwas Neues."
Das haben wir in der Prophetenlesung gehört.

In der Pauluslesung hieß es dann:
„Ich vergesse, was hinter mir liegt,
und strecke mich nach dem aus, was vor mir liegt."

In beiden Lesungen geht es also um einen Perspektivenwechsel:
Schaut nicht zurück, sondern blickt nach vorne!
Und beide Lesungen haben es mit einer Umbruchsituation zu tun.

Am Prophetenbuch, das uns überliefert ist unter dem Namen des Jesaja,
haben mehrere Propheten zu verschiedenen Zeiten gearbeitet:
Der Text der heutigen Lesung stammt von einem unbekannten Propheten,
den die Exegeten den „Deutero-Jesaja" nennen:
Den zweiten Jesaja also.
Der lebte und verkündete seine Gottes-Botschaft
zur Zeit des Babylonischen Exils -
in einer Zeit also, die für das Volk Israel
eine Zeit der Katastrophe und großer Not war
und damit zugleich eine Zeit radikalen Umbruchs.

Das Wort „Umbruch" hat zwei Dimensionen:
einmal die der verlorenen Vergangenheit,
zum anderen die der noch ungewissen Zukunft.
Häufig trauern Menschen in solchen Situationen
nur der Vergangenheit nach
- glorifizieren sie nicht selten -
und sind ausschließlich fixiert auf das, was einmal war.
Eine neue, lebenswerte Zukunft können sie sich nicht vorstellen,
nehmen sie jedenfalls nicht in den Blick.

Das Anliegen des Propheten ist es nun,
den Blick der Menschen nach vorne zu richten.
Dazu weckt er zunächst einmal die Erinnerung
an jenes geschichtliche Ereignis,
dem Israel seine Existenz als Volk verdankt:
An den Auszug aus dem Sklavenhaus Ägyptens also.
Auch das war damals eine radikale Umbruchssituation:
Gott befreite sein Volk aus der menschenunwürdigen Sklaverei
und führte es in die Wüste - in eine sehr ungewisse Zukunft also,
die zunächst „nur" Verheißung war,
für die Menschen jedoch noch nicht erfahrbar.
Auch in der „Wüste" haben die Menschen 
die Vergangenheit glorifiziert
und von den „Fleischtöpfen" Ägyptens gesprochen.
Und doch stand am Ende der Wüstenwanderung
die Erfüllung der Verheißungen Gottes.

An dieses grundlegende Geschehen knüpft Deutero-Jesaja an
und ruft die Menschen dazu auf,
auch in der Situation des babylonischen Exils den Blick nach vorne zu richten
und darauf zu vertrauen, daß Gott eine neue Zukunft schenkt.

Mehr noch -
Er öffnet den Leuten die Augen für die Gegenwart:
„Seht her, jetzt mache ich etwas Neues - spricht Gott.
Schon kommt es zum Vorschein, merkt ihr es nicht?"
Wascht euch doch die Vergangenheit aus den Augen!
Nur so bekommt ihr einen klaren Blick für die Zukunft,
die sich jetzt schon abzeichnet.

Ähnlich Paulus in einer ganz persönlichen Umbruchssituation:
Er muß Abschied nehmen von seiner eigenen Vergangenheit als Pharisäer;
von einer Vergangenheit also, in der er aufgewachsen ist,
in der er zuhause war,
die sein Leben ausmachte,
die ihn prägte.
Jene merkwürdige Begegnung vor Damaskus
- ein Name: Jesus Christus -
warf sein bisheriges Leben aus der Bahn.
Das ist der Anfang eines radikalen Umbruchs:
Ausgerechnet der, den er bis auf‘s Blut verfolgt hatte,
der ruft ihn in seine Nachfolge!

Paulus weiß, daß er noch ganz am Anfang steht.
Er bildet sich nicht ein, 
daß er das Neue schon wirklich ergriffen hätte.
Eins aber tut er:
Er vergißt, was hinter ihm liegt,
und streckt sich nach dem aus, was vor ihm ist.

Als Gesellschaft befinden auch wir uns augenblicklich
in einer solch existentiellen Umbruchssituation.
Ich fürchte, diejenigen irren,
die uns weismachen wollen,
es gehe nur um eine vorübergehende Flaute unserer Wirtschaft.
Vielmehr scheint sich - vor allem ausgelöst durch das, 
was wir Globlaisierung nennen -
ein sehr tiefgreifender Wandel dessen zu vollziehen,
was uns seit den fünfziger Jahren zur Selbstverständlichkeit geworden ist
und was uns bisher Sicherheit gab.
Auf diesem Hintergrund erscheint alle sogenannte Reformpolitik
als vergangenheitsorientierte Flickschusterei.
Der Politik und der Gesellschaft insgesamt fehlt es an Zukunfstvisionen.
Es wäre reizvoll, diese Situation aus der Perspektive
der heutigen Lesungen, zumal der Prophetenlesung - zu analysieren.

Wichtiger scheint mir heute jedoch ein Blick auf die Umbruchssituation,
der sich unsere Kirche ausgesetzt sieht,
und die vielen von uns Angst macht.

Wichtig ist auch ein Blick darauf,
wie die Kirche und wie wir selbst mit dieser Situation umgehen:
• Der Vergangenheit nachtrauernd 
und mit dem Bemühen zu sichern, was irgendwie zu sichern geht.
• Oder den Verheißungen Gottes vertrauend
und mit einem wachen Blick für die „Zeichen der Zeit"
und für die Chancen einer Zukunft,
die sich jetzt schon auftun.

Durch den gesellschaftlichen Wandel
sind seit Jahren alle normativen Institutionen in Frage gestellt -
nicht nur, aber eben auch die Kirche.
Dazu kommt, daß moderne Kulturen
eine heimliche Vertröstung auf das Diesseits pflegen.
Die Suche nach dem Himmel spielt sich auf Erden ab.

Die Folgen kennen wir alle:
• Die Zahlen - auch hier in unseren Gottesdiensten - gehen deutlich zurück.
Priesterberufe sind Mangelware geworden.
Den „Priester in Rufweite" gibt es jetzt schon nicht mehr,
und es wird ihn immer weniger geben.
Schon jetzt kann kaum noch die Hälfte der bestehenden Pfarrgemeinden
mit einem Pfarrer „versorgt" werden.
• Jetzt kommt - durch die wirtschaftliche Lage schneller als erwartet -
das finazielle Desaster hinzu.

Die Kirche reagiert in den meisten deutschen Diözesen ganz ähnlich -
nämlich vergangenheitsorientiert.
Man orientiert sich an der Zahl der zukünftig zur Verfügung stehenden Priester
und reduziert entsprechend durch Zusammenlegungen die Zahl der Gemeinden.
Im Bistum Hildesheim z.B. sollen etwa 360 bestehende Gemeinden
so zusammengelegt werden, daß 2020 nur 120 Gemeinden bestehen.
Die Struktur der Kirche wird also nicht im Sinne des Konzils 
vom „Volk Gottes" her konzipiert,
sondern vom verfügbaren Klerus her.
Der bedeutende Pastoraltheologe Paul Zulehner
spricht deshalb von einer „Reklerikalisierung" der Kirche.

In ihrer finanziellen Bedrängnis rufen immer mehr Bistümer
betriebswirtschaftliches Know-how zu Hilfe.
Man orientiert sich am verfügbaren Geld.
Zulehner nennt das die „Ökonomisierung" der Kirche
und kritisiert die kirchlichen Strukturreformen
als weitgehend „gott-frei", also als „a-theistisch".

Für Zulehner müßte die Frage lauten:
Was sind die Herausforderungen der Zeit 
- also die „Zeichen der Zeit" - für die Kirche?
Er meint, die aktuellen Reformen gäben auf diese Frage keine Antwort;
im Gegenteil: Sie erschwerten sie sogar,
weil sie nur ein untergehendes Kirchensystem
für eine begrenzte Zeit sanierten und stabilisierten.

Es geht also auch für die Kirche von heute darum,
den Blick nach vorn zu richten:
Nicht an das zu denken, was früher war,
sondern auf Gottes Verheißung zu vertrauen:
„Seht, ich mache etwas Neues."
Oder in den Formulierungen des Paulus:
Zu vergessen, was hinter ihr liegt,
und sich auszustrecken nach dem, was vor ihr liegt.

Die Kirche - wir alle - müssen uns dabei orientieren
an Jesus Christus und seinem Evangelium.
Dabei gilt es die Schnittstelle zu finden 
zwischen der „Tradition" des Evangeliums
und der aktuellen „Situation" der Menschen heute.

Zuhlener glaubt, an dieser Schnittstelle
vor allem zwei Herausforderungen wahrzunehmen:

Zum einen sagt er, müsse die Kirche 
der zunehmend dominanten Freiheit im Sinne des Neoliberalismus
Gerechtigkeit abringen.
Kirche ist herausgefordert, Anwältin derer zu sein,
die in Gefahr sind, als Modernisierungsverlierer überflüssig zu werden.
In diesem Sinne müsse eine kluge Diakonisierung der Kirche 
auf dem Programm stehen.
„Wer in Gott eintaucht, taucht neben den Menschen
zumal den Armen, den Armgemachten auf." 

Zum anderen müsse die Kirche inmitten der zunehmenden Säkularisierung
eine „gute Adresse" für spirituell Suchende werden. 
„Die Sehnsucht boomt, aber die Kirchen schrumpfen."
Und das, obwohl sich die Kirche dem Pfingstgeist Gottes verdankt,
obwohl ihr die Gabe des Geistes geschenkt ist -
der Kirche insgesamt und jedem einzelnen Christen in Taufe und Firmung.
Sich darauf zu besinnen - darum geht es!

Wenn Zulehner mit diesen aktuellen Herausforderungen für die Kirche
den Nagel auf den Kopf trifft,
dann ist zugleich klar,
daß damit wir - die wir doch durch die Taufe Kirche sind -
herausgefordert sind.
Dann können wir eine Antwort auf diese Herausforderungen der Zeit
nicht einfach „denen da oben" überlassen.
Dann können wir auch notwendige Strukturreformen in der Kirche
nicht nur „denen da oben" überlassen.

Unser Blick nach vorn,
unsere gläubige Sensibilität für die „Zeichen der Zeit"
sind gefragt.
Die Kirche der Zukunft braucht 
unsere Phantasie und unsere Kreativität -
und das nicht in erster Linie, weil wir schließlich 
die Suppe von „Eckpunkte 2020" auslöffeln müssen, 
sondern weil wir Kirche sind, „Volk Gottes".

Amen.
 

Wer sich angeregt fühlt nachzulesen,
was Paul Zulehner zu Umbruch und Umbau der Kirche schreibt,
findet seinen Beitrag in der Herderkorrespondenz
von März 2004.