Predigt zum 11. Sonntag im Jahreskreis (A) am 16. Juni 2002
Zum Evangelium: Mt. 9, 36 bis 10, 8. 
Autor: P.Heribert Graab S.J.
„In jener Zeit, als Jesus die vielen Menschen sah,
hatte er Mitleid mit ihnen;
denn sie waren müde und erschöpft
wie Schafe, die keinen Hirten haben."

In unseren Tagen, wenn Jesus die vielen Menschen sieht,
dürfte er wieder von Mitleid erfüllt sein,
denn auch heute sind viele müde und erschöpft,
gestreßt und unter der Knute eines vielfältigen Leistungsdruckes,
vollgestopft mit Wissen und arm an menschlichen Werten,
ohne religiöse Fundamente und orientierungslos
in einer pluralen Gesellschaft und in einer globalen Welt,
teilweise übersättigt vom Konsum,
teilweise am Rande der Gesellschaft verarmt und ausgegrenzt,
vielfältiger Gewalt ausgesetzt und selbst gewaltbereit:
In der Sprache Jesu „Wie Schafe, die keinen Hirten haben."

Auch heute würde Jesus zutreffend sagen:
„Die Ernte ist groß, aber es gibt nur wenig Arbeiter."
Und doch ist zwischen damals und heute
ein gewaltiger Unterschied:

Damals hatte Jesus gerade mal zwölf Jünger.
Die aber waren erfüllt von einer sagenhaften Aufbruchstimmung.
Jesus hatte ihnen gesagt:
„Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. 
Wie froh wäre ich, es würde schon brennen!" (Lk.12, 49)
Die verschwindend kleine Zahl der Jünger Jesu
ließ sich von diesem Feuer entzünden
und steckte damit unter dem Eindruck der Ostererfahrung
die ganze damals bekannte Welt an.
Und immer wieder fanden sich Menschen,
die dieses Feuer weitertrugen durch die Jahrhunderte.

Heute hat Jesus - jedenfalls auf dem Papier -
allein in dieser Stadt etwa 80.000 Jüngerinnen und Jünger.
Die aber sind großenteils selbst „müde und erschöpft",
ausgebrannt, enttäuscht und frustriert,
nicht wirklich überzeugt vom Evangelium Jesu Christi.
Manch einem von ihnen würde Jesus wahrscheinlich sagen,
wie er es damals schon etlichen sagte:
„Wollt nicht auch ihr weggehen?" (Joh.6, 67)
Für die Zwölf hatte damals Simon Petrus geantwortet: 
„Herr, zu wem sollen wir gehen? 
Du hast Worte des ewigen Lebens." (Joh. 6, 68)

Aber selbst diejenigen, die sich die Worte des Petrus
heute zu eigen machen,
sehen die Situation des Evangeliums Jesu Christi in dieser Welt
vielfach mit glanzlosen, statt mit strahlenden Augen.
Das gilt selbst für Priester und Bischöfe,
die sich selbst in besonderer Weise
als Nachfolger der Apostel damals verstehen.
Manche von ihnen schauen recht pessimistisch in die Zukunft,
klagen vielfach in ihren Predigten
und schmieden Pastoralpläne,
die wenig vom Elan des Pfingstgeistes spüren lassen.

Wilhelm Willms hat einmal gesagt,
es komme auf die Augen an,
mit denen man auf die Menschen, auf die Welt
und auch auf die Kirche Jesu Christi schaut:
Und er meint - und dazu möchte ich Sie ermutigen -
man solle mit guten Augen, mit strahlenden Augen,
mit optimistischen und hoffnungsfrohen Augen
die Wirklichkeit betrachten.
Um Grunde geht es um die alte Volksweisheit,
nach der man ein Glas Saft unterschiedlich sehen kann:
„Oooch, das ist ja schon halb leer!"
oder
„Aaah, das ist ja halb voll!"

Sie glauben gar nicht, wie viel Ermutigendes
Sie mit optimistischen 
und doch sehr wohl realistischen Augen entdecken können!

• Ist Ihnen z.B. schon mal zu Bewußtsein gekommen,
daß es in der Kirche in Deutschland
und auch hier in der Gemeinde St.Michael
noch nie so viele engagierte ehrenamtliche
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gegeben hat
wie augenblicklich?
Da ist unsere Kirche höchst lebendig!

• Wissen Sie, daß schon seit Jahren
die Zahl der Erwachsenentaufen erheblich zunimmt?
Vor wenigen Jahren waren es etwa 3.000 im Jahr.
Im vergangenen Jahr waren es um 15.000!
Hinzu kommen viele Aufnahmen und Wiederaufnahmen
Erwachsener in die Kirche - auch hier bei uns.
Und dahinter steht in jedem Einzelfall
eine sehr bewußte und engagierte Entscheidung.
Im vergangenen Jahr hat mir die Zusammenarbeit
mit einer Gruppe solcher Menschen
unter dem Titel „Einführung in den Glauben"
sehr viel Spaß gemacht.
Und ich gehe davon aus, daß wir im Herbst
erneut mit einer solchen Gruppe beginnen können -
dann unter dem Titel „Schritte zum Christsein".

• Haben Sie schon einmal darauf geachtet,
wieviele Orte geistlichen Lebens es rund um Göttingen gibt -
wenige alte nur, aber etliche, die neu entstanden sind:
„Alt" ist z.B. die Benediktinerinnenabtei in Herstelle.
Im vergangenen Jahr haben dort viele von uns
ein oder mehrere Tage der Besinnung auf ihren Glauben verbracht.
Jüngeren Datums ist das neue Leben im Kloster Bursfelde.
Faszinierend ist, was nach der Wende
in Volkenroda / Thüringen gewachsen ist.
Noch wenig bekannt ist das neu erstandene
Karthäuserinnenkloster im Werra-Meißner-Kreis.
Das junge Benediktinerinnenkloster in Marienrode
hat eine Ausstrahlung bis hierher.
Nicht so sehr für uns, aber doch für die Stadt 
und die Region Hannover bedeutsam
ist die junge Benediktinerzelle mitten in der Großstadt.

All das und vieles andere mehr
und nicht zuletzt, was in den letzten Jahren
auch hier bei uns in St.Michael gewachsen ist,
läßt mich persönlich sehr optimistisch in die Zukunft sehen
und trägt wesentlich dazu bei,
daß ich auch mit nahezu siebzig Jahren
noch sehr viel Freude an meiner Aufgabe habe.

Es ist nicht möglich, dem Auftrag Jesu Folge zu leisten
„Bittet den Herrn der Ernte,
Arbeiter für seine Ernte auszusenden",
wenn man selbst enttäuscht ist
und nicht davon überzeugt,
daß diese Bitte lohnend und sinnvoll ist.
Im Wirtschaftsjargon ausgedrückt
müssen wir sagen:
Unser „Produkt" ist hervorragend,
und es gibt dafür einen riesigen Markt.
Wenn wir jetzt noch selbst davon überzeugt sind,
statt die Perspektiven des Evangeliums
und der Kirche Jesu Christi schlecht zu reden,
dann können wir auch glaubwürdig
und mit Aussicht auf Erfolg
im Sinne Jesu um Arbeiterinnen und Arbeiter
in seiner Ernte bitten.

Amen.