Predigt zum 13. Sonntag im Jahreskreis (A) 
am 30. Juni 2002
Zum Evangelium: Mt. 10, 37 - 42 (Vers 37). 
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Das Evangelium dieses Sonntags
und schon die Evangelientexte der beiden vergangenen Sonntage
sind ausgewählt aus einer Redekomposition,
die der Evangelist Matthäus aus vielen überlieferten Worten Jesu
- sogenannten „Logien" - zusammengestellt hat.
Diese ganze Komposition nennen die Exegeten
die „Aussendungsrede" Jesu an seine Jünger.
Zu Beginn dieser Rede 
- wir haben diese Eröffnung der Rede vor vierzehn Tagen gehört - 
spricht Jesus von der großen Ernte
und von den wenigen Arbeitern, die dafür zur Verfügung stehen.

Und dann sendet Jesus seine Jünger 
und gibt ihnen Anweisungen mit auf den Weg,
wie sie ganz praktisch als Seine Jünger
- wenn Sie so wollen: als „Christen" -
ihren Glauben zeugnishaft leben sollen,
um so Menschen für das Reich Gottes zu gewinnen.

Wie gesagt: In dieser konkreten Zusammenstellung
stammt diese Rede von Matthäus,
der sie für die Christen seiner Zeit 
und seiner Gemeinde aufgeschrieben hat.
Jedes einzelne „Logion" jedoch geht auf Jesus selbst zurück,
auch wenn wir nicht mehr rekonstruieren können,
bei welcher Gelegenheit Er es ursprünglich gesagt hat.

Auf diesem Hintergrund ist es wohl zulässig,
eines dieser Logien herauszugreifen
und darauf in der Predigt ein wenig einzugehen.
Denn genau genommen gäbe jeder einzelne Satz
den Stoff ab für eine eigene Predigt.

Ich möchte also ein Wort herausgreifen,
an dem sich schon so manch einer gestoßen hat:
„Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich,
ist meiner nicht würdig,
und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich,
ist meiner nicht würdig."

Auf den ersten Blick scheint es so,
als ob Jesus damit das vierte Gebot
„Du sollst Vater und Mutter ehren"
außer Kraft setze oder doch wenigstens „durchlöchere".
Wir sollten jedoch genau hinhören auf das, 
was Jesus sagt, bzw. was Er nicht sagt:

Er sagt nicht: Du sollst Vater und Mutter links liegen lassen.
Er sagt nicht einmal: Du sollst mich mehr lieben als Vater und Mutter.
Er sagt vielmehr: Ich will von dir geliebt werden,
genauso wie du deinen Vater und deine Mutter,
wie du deinen Sohn oder deine Tochter liebst.

Vielleicht wird das Wort Jesu nochmal ein wenig deutlicher,
wenn wir es in eine familiäre Situation heute übertragen:
Wenn wir uns also vorstellen, eine junge Frau
sage dieses Wort an die Adresse ihres Mannes:
„Wenn du deinen Vater und deine Mutter mehr liebst als mich,
bist du meiner nicht würdig!"
Da wird dieses Wort nachvollziehbar,
und ich könnte mir vorstellen,
daß es einige Eheprobleme weniger gäbe,
und daß das Verhältnis zwischen mancher Schwiegertochter
und mancher Schwiegermutter herzlicher wäre,
wenn der Ehemann z.B. nicht immer wieder
die Kochkunst oder überhaupt die Art und Weise seiner Mutter
höher schätzen und seiner Frau als Vorbild vor Augen stellen würde. 

Und sicherlich würden wir Jesus auch besser verstehen,
wenn wir uns klar machten,
daß Er das Verhältnis zu Vater und Mutter
als ein Beispiel versteht.
Gewiß könnte Er dieses Beispiel auch heute wählen;
aber möglicherweise fiele Ihm gerade an diesem Sonntag
ein anderes Beispiel ein:
„Wenn dir das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft
wichtiger ist als die Gemeinschaft mit mir im Sonntagsgottesdienst,
dann bist du meiner nicht würdig!"

Vielleicht aber würde er auch fragen:
„Wer seine Bierruhe vor dem Fernseher mehr liebt
als die Auseinandersetzung mit Fragen seiner Familie,
kann der eigentlich meinen Namen - „Christ" - tragen?

Oder:
„Wer sein eigenes Konto mehr liebt
als die Linderung der Not in dieser Welt,
darf der sich eigentlich „Christ" nennen?"

Oder:
„Wer auf eigene Ansprüche pocht und sie mehr liebt
als die Notsituation von Asylbewerbern z.B.,
darf der sich „Christ" nennen?"

Und dann schließt sich nahtlos das nächste Wort Jesu an:
„Wer sein Leben gewinnen will,
wird es verlieren;
wer aber das Leben um meinetwillen verliert,
der wird es gewinnen."

Also:
Alles, woran wir hartnäckig festhalten,
weil wir uns so sehr daran gewöhnt haben,
weil es unserer Bequemlichkeit 
oder auch unserem Egoismus entgegenkommt,
weil es so sicher scheint und Sicherheit verspricht -
all das werden wir verlieren.
Nur wenn wir Jesus und seine Botschaft
als die eigentliche Quelle des Lebens
und unserer eigenen Lebenserfüllung entdecken,
nur wenn wir auf Grund dieser Erkenntnis
uns auch nicht scheuen,
gelegentlich „gegen den Strom zu schwimmen -
nur dann werden wir wirklich „das Leben"
und das wahre Glück des Lebens finden.

Nicht das bloße Verharren in alten Beziehungskreisen heißt Leben,
sondern die Aufnahme neuer Beziehungen
- immer wieder und „um meinetwillen" -
ermöglicht wahres Leben
als Partnerin oder Partner Jesu, 
als Gegenüber Gottes.

Das neue Beziehungsgeflecht,
um das es Jesus geht,
dieses Beziehungsgeflecht,
das einfach übersprudelt von begeisterndem Leben -
das „Reich Gottes", bzw. die „Stadt Gottes"
ist nicht eine Stadt der untereinander Verwandten 
und miteinander Verfilzten, sondern die Gemeinschaft derer,
die sich auf Jesus ganz einlassen
und auf Ihn vertrauen.

Gerade wenn es uns darum geht,
das Leben „in Fülle" zu haben
und unseren Kindern und all denen, die uns nahe stehen,
und darüber hinaus möglichst vielen Menschen
ein „geglücktes" Leben zu wünschen und zu vermitteln, 
dann müßten wir uns wohl auf dem Hintergrund dieses Jesusworte
immer wieder auf‘s neue fragen:
Wer ist eigentlich dieser Jesus für mich?
Was bedeutet Er mir?
Welche Rolle spielt er in meinem Leben?
Welche Priorität hat Er im Ganzen meiner Beziehungen?

Amen.