Predigt zum 27. Sonntag im Jahreskreis (A) 
am 6. Oktober 2002 (Erntedankfest)
Zum Evangelium: Mt. 21, 33-44. 
Autor: P.Heribert Graab S.J
Ein Gleichnis läßt nicht selten mehrere Deutungen zu.
So auch das Gleichnis von den bösen Winzern.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit können wir 
aus diesem Gleichnis den Originalton Jesu heraushören.

Er wendet sich mit dieser Geschichte
an die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes,
also an die Führungsschicht Israels.
Diese Führungsschicht ist in den Augen Jesu
zu vergleichen mit den bösen Winzern des Gleichnisses.
Wie diese Winzer nur ihren eigenen Profit suchen
und dem Gutsbesitzer seinen Anteil verweigern,
so geht es den Verantwortlichen des Volkes Israel,
der Gottesvolkes also,
um ihre eigenen religiösen und politischen Vorstellungen,
um ihren eigenen Einfluß, um ihren eigenen Machterhalt.
Immer wieder lassen sie die Boten Gottes, Seine Propheten,
ins Leere laufen, bringen sie sogar um.
Zuletzt noch hielten sie es 
- im Unterschied sogar zu den Dirnen und Zöllnern - 
nicht für erforderlich, 
hinzuhören auf die Botschaft Johannes der Täufers,
ihr Fehlverhalten aufzugeben
und auf den Ruf Gottes einzugehen.

Und nun kommt - sozusagen als letzte Chance -
„Gottes Sohn" selbst, um die verstockten Herzen
zur Umkehr zu bewegen.
Jesus erzählt das Gleichnis während der letzten drei Tage
seines Lebens in Jerusalem -
zu einer Zeit also, da sich sein Schicksal bereits überdeutlich 
am Horizont abzeichnet.

Aber noch ist die letzte Konsequenz des Gleichnisses
nicht Wirklichkeit geworden;
noch ist Jesus nicht förmlich der Prozeß gemacht,
noch hängt er nicht am Kreuz.
Das Gleichnis zielt auf die abschließende Frage:
„Was wird der Herr des Weinberges mit solchen Winzern tun?"

Jesus predigt also nicht das unvermeidliche göttliche Gericht,
vielmehr will er mit der offenen Schlußfrage
sozusagen ein letztes Mal die Hörerinnen und Hörer wachrütteln
und zur Umkehr bewegen.

Matthäus nun schreibt dieses Gleichnis
um ein Entscheidendes später auf -
zu einem Zeitpunkt also,
da „der Sohn" bereits umgebracht wurde.
Mehr noch, er schreibt das Gleichnis
in der nachösterlichen Zeit auf -
auf dem Hintergrund des Auferstehungsglaubens
der frühchristlichen Gemeinden.
Für Matthäus und seine Gemeinde ist also bereits klar,
daß der gewaltsame Tod des Sohnes
nicht das Ende der Geschichte Gottes mit seinem Volk bedeutet,
sondern daß durch die Auferweckung 
ein endgültiger Neubeginn gesetzt wurde.

Dementsprechend fügt Matthäus hier im Blick auf Jesus, 
den auferstandenen Christus, 
das Zitat aus dem Psalm 118 ein:
„Der Stein, den die Bauleute verworfen haben,
ist zum Eckstein (des Neubeginns) geworden."
Und bei Matthäus schließt die Gleichnis-Perikope
nicht mit einer Frage, sondern mit einer Faktenfeststellung:
„Das Reich Gottes wird euch weggenommen
und einem Volk gegeben werden,
das die erwarteten Früchte bringt."

Sehr holzschnittartig hat man später
diese Matthäusfassung des Gleichnisses
auf das Volk der Juden interpretiert,
das durch den „Mord am Sohn" endgültig verworfen sei,
und auf das Neue Volk Gottes, die Kirche,
die nun endlich die von Gott erwarteten Früchte bringe.
Und in der Konsequenz dieser Interpretation
entstand jener unselige Antisemitismus in der Kirche,
der im Laufe der nachfolgenden Geschichte
zu unzähligen Pogromen führte
und schließlich auch - jedenfalls als eine Wurzel -
den Holocaust zur Folge hatte.

Vermutlich hat aber Matthäus selbst viel mehr
sorgenvoll auf die Zukunft des „Neuen Gottesvolkes" selbst geschaut.
Schon durch die ersten Erfahrungen mit der Gemeinde Jesu,
deren Schwachpunkte ja schon früh zu tage traten,
fühlt Matthäus sich wohl veranlaßt,
dieser Gemeinde im Gericht über Israel
das eigene drohende Schicksal vor Augen zu führen.
Er will also sagen:
Die Gemeinde steht unter der ständigen Gefahr
einer falschen Selbstsicherheit
und muß ihr Selbstverständnis 
durch die Praxis des Fruchtbringens immer wieder neu realisieren.

So verstanden behält dieses Gleichnis auch für die Kirche heute,
und für uns als Christen des 21. Jahrhunderts,
und zumal natürlich für die Amtsträger in dieser Kirche
seine bleibende und eindringliche Aktualität.
Inwieweit leben wir unseren Glauben,
leben wir nach den Vorstellungen Gottes vom angebrochenen „Reich Gottes"?
Inwieweit liefern wir heute Ernte für Ernte Früchte ab
für die Gestaltung der Zukunft Gottes?

Können wir wirklich so sicher sein,
daß diese Kirche - so wie sich heute darstellt -
auf alle Ewigkeit Bestand hat?

Könnte es nicht so sein,
daß heute schon wenigstens dieser oder jener Erwartung Gottes
von anderen eher entsprochen wird?
Daß also andere jene Früchte abliefern,
die eigentlich wir abliefern sollten?

Fragen wir uns doch einmal, 
warum außerhalb der Kirche so viele spirituelle Bewegungen
(und auch Scharlatane) 
dem Bedürfnis von Menschen - und auch von Christen -
nach geistlicher Grundnahrung und Sinnfindung
offenkundig mehr entsprechen als die Kirche,
der diese Sendung doch wohl aufgetragen ist?

Oder nehmen wir als Beispiel die uns von Gott aufgetragene Sorge um die Schöpfung:
Bringt da nicht die ökologische Bewegung deutlich mehr Früchte
als die Kirche, als wir Christen,
die wir in einer drauflos wirtschaftenden Gesellschaft
fast ununterscheidbar geworden sind?

Gerade dieser Gesichtspunkt legt es - 
zumal heute am Erntedankfest - nahe,
noch einmal einen anderen Deutungsansatz der Gleichnisses
in Erwägung zu ziehen.
Nehmen wir an,
der von Gott an uns verpachtete Weinberg
wäre die ganze Schöpfung, diese Erde, der Kosmos insgesamt.
Wie gehen wir damit um?
Wir holen an Früchten raus, was rauszuholen ist,
beuten also die Schöpfung aus bis zum geht nicht mehr.
Einige haben dabei ausschließlich ihren eigenen Profit im Auge.
Den meisten geht es um den eigene Wohlstand,
um den Wohlstand hier in unseren reichen Ländern,
um den Wohlstand ausschließlich dieser jetzt lebenden Generation.
Wer denkt schon an die Armen?
Wer denkt an die nach uns kommenden Generationen?
Früchte bringen auch für sie -
das hieße doch wohl Früchte bringen für den „Herrn des Weinbergs"!
„Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt,
das habt ihr mir getan," heißt es doch.
Sind damit nicht gerade die Armen gemeint?
Sind damit nicht gerade auch zukünftige Generationen gemeint,
die jedenfalls in dem Sinne zu den „Geringsten" gehören,
als sie heute keine eigene Stimme haben?

Vielleicht ist dies eine recht ungewöhnliche Deutung des Gleichnisses.
Aber am Erntedankfest sei sie als ein Impuls zum Nachdenken erlaubt.

Amen.