Predigt zum 30. Sonntag im Jahreskreis (A) 
am 27. Oktober 2002
Lesungen: Ex. 22, 20-26 und Mt. 22, 34- 40.
Aktueller Hintergrund: Zwei Polizeirazzien beim Mittagstisch St.Michael.
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Das Evangelium bringt den Kern der christlichen Botschaft
auf einen sehr kanppen Nenner,
der an Klarheit nichts zu wünschen übrig läßt:
„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben
mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken!"
Und ein Zweites:
„Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst!"
Diese zweite Weisung ist gleichbedeutend mit der ersten.

Im griechischen Originaltext werden beide Weisungen
miteinander verbunden durch das Wort „omoia".
Das heißt: Gleich, gleichbedeutend, ähnlich -
oder auch „identisch" - und um diese Bedeutung geht es hier
im Kontext des ganzen Evangeliums von Jesus Christus.
Denken Sie z.B. an Jesu Gerichtsrede (ebenfalls bei Matthäus):
„Ich war hungrig, durstig, fremd, obdachlos, nackt, im Gefängnis...
Und ihr habt mir geholfen, habt euch um mich gekümmert.
Die Menschen fragen: Wann haben wir...?
Die Antwort „des Königs":
Was ihr füreinen meiner geringsten Brüder (und Schwestern) getan habt,
das habt ihr mir getan!" (Vgl. Mt. 25, 31-46).

Also:
Gottesliebe und Nächstenliebe (übrigens auch Selbstliebe!) -
ein und dasselbe, verschiedene Seiten der gleichen Wirklichkeit!

Auf diesem Hintergrund verstehen wir die Auswahl der ersten Lesung
für diesen Sonntag erst richtig:
Fremde, Schwache, Arme und Ausgegrenzte
stehen so sehr unter Gottes Schutz,
daß Er sich mit ihnen idnetifiziert!
Gott tritt als ihr Anwalt auf.
Jedes Handeln gegen Seine Klientel 
muß als affront gegen Ihn selbst gewertet werden!

Hier liegt es nun nahe,
auf die jüngsten Polizeirazzien beim Mittagstisch St.Michael
zu sprechen zu kommen.
Die meisten von Ihnen haben darüber gelesen.
Und einige Gemeindemitglieder haben sich wohl auch gefragt:
Wie ist es möglich, daß ausgerechnet
eine christliche Gemeinde mit ihrem Mittagstisch
ins Visier der Polizei gerät?

Der Polizei geht es um illegale Drogen.
Und zumal den Handel mit solchen Drogen muß sie verfolgen.
Uns geht es um die konkreten Menschen,
die vor allem durch ihre soziale Situation von Drogen abhängig
und durch das miese Geschäft von Drogendealern 
unheilbar krank wurden.
Wo Drogenabhängige sich treffen,
liegt der Verdacht nahe,
daß sich dort auch - wenigstens kleine - Dealer aufhalten.
Allerdings weiß die Polizei so gut wie wir,
daß kein Dealer so dumm ist,
seinen Stoff gerade dort zu verstecken oder mit sich herum zu tragen,
wo er ständig mit Polizeikontrollen zu rechnen hat.
Dementsprechend war das meßbare Ergebnis der Razzien
auch gleich Null.

Und da dieses Ertgebnis abzusehen war,
kann es auch nicht das Ziel solcher Aktionen sein,
Dealer zu erwischen.
Vielmehr ist es das Ziel der Polizei,
• einmal durch Schikane die betroffenen Menschen zu vertreiben;
• zum anderen den verärgerten Bürgern und Geschäftsleuten
zu verdeutlichen: „Seht her! Wir tun etwas!"

Diesem Publicity-Ziel diente z.B. der Schwarm von Journalisten,
der von der Polizei ausdrücklich eingeladen war.
Die ganze Aktion und der damit verbundene
PR-Rummel werden vor allem dadurch fragwürdig,
daß es in dieser Stadt kein schlüssiges Konzept gibt,
den abhängigen Menschen wirklich zu helfen.

Und eine „Vertreibung" ist purer Unsinn,
solange es nicht die geringste realistische Vorstellung darüber gibt,
wohin diese Menschen denn gehen sollen.
Bei einer früheren Razzia wurden sie kurzfristig einmal zum Wall hin getrieben.
Die Folge: Die anliegenden Schulen liefen verständlicherweise Sturm.
Davon die weitere Folge: Sie wurden ein zweites Mal vertrieben
und landeten wieder auf der Turmstraße.

Schlimmer als all das war in meinen Augen die Tatsache,
daß bereits am folgenden Tag ein Ratsherr mit dem „C" im Parteinamen
in der Presse eine Stellungnahme abgab,
in der er die Toleranz gegenüber abhängigkeitskranken Menschen
gegen - in seinem Sinne - „wahre" Mitmenschlichkeit ausspielte.

Wir sprechen in der Regel weder von Toleranz,
noch von Mitmenschlichkeit,
sondern im Sinne des Evangeliums von Caritas,
von christlicher Nächstenliebe also.
Zu der allerdings gehört auch ein gerüttelt Maß 
an Toleranz den Menschen gegenüber,
deren Lebensituation und Lebensstil 
wir nun wirklich nicht für gut halten.
Das tun sie nicht einmal selbst -
im Gegenteil: Vielfach leiden sie unter ihrem konkreten Leben.

„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!" 
Ein indianisches Sprichwort sagt,
man müsse einen Mond lang in den Mokassins eines Menschen gelaufen sein,
um ihn verstehen und lieben zu können.
Einen Menschen lieben „wie sich selbst" heißt also,
erst einmal in seine Haut schlüpfen,
das Leben mit seinen Augen betrachten.

In diesem Sinne fragt Jesus den Schriftgelehrten bei Lukas:
„Wer ist nun der Nächste geworden für den,
der unter die Räuber gefallen ist?"
Die Frage also „Wer ist mein Nächster?"
ist schon falsch gestellt.
Sie muß lauten:
Wer ist für den Drogenabhängige der Nächste?

Die Polizei ist es sicherlich nicht.
Herr Niehörster ist wohl kaum je „in den Mokassins"
eines Drogenabhängigen herumgelaufen.
Jener Ratsherr schon gar nicht.
Aber wir sollten uns fragen,
ob wir wenigstens schon mal den Versuch gemacht haben,
die Probleme aus der Sicht der Betroffenen wahrzunehmen.

Diejenigen jedenfalls, die beimMittagstisch von St.Michael mitarbeiten,
aber auch diejenigen, die schon einmal selbst dort gegessen haben,
oder diejenigen, die wenigstens hier und da mal 
ein Gespräch mit Betroffenen suchen,
sehen die Dinge aus einer anderen,
für sei selbst vielfach ganz neuen Perspektive.
Sie erfahren nicht selten etwas von der persönlichen Geschichte solcher Menschen
und werden in aller Regel sehr, sehr nachdenklich.

Und diese Nachdenklichkeit ist eine wichtige Voraussetzung
für jene Liebe, die Jesus mit der Gottesliebe gleichsetzt,
und die gelebten Glauben ausmacht.

Für eine neue Sicht auf die konkreten Probleme von Menschen,
für die daraus resultierende Nachdenklichkeit
und für eine Liebe, die den anderen liebt „wie sich selbst"
steht der Mittagstisch St.Michael.

Und dafür stehen alle, die ihn ermöglichen -
notfalls auch gegen eine Politik,
deren Augen durch andere Interessen geleitet sind,
und gegen eine Polizei, die dieser Politik dient.

Jesus selbst wurde schließlich gerade wegen seines Bemühens,
mit den Augen der Opfer zu sehen,
verurteilt und ans Kreuz geschlagen.

Ludger Hillebrand hat heute morgen in seiner Predigt
einige erschütternde Beispiele von Flüchtlingen
und von der Politik unseres Landes gegen sie erzählt.
Auch da geht es darum,
einen Mond lang in den Mokassins dieser Menschen zu gehen.
Und wenn irgendwo in christlichen Gemeinden
einmal Kirchenasyl gewährt wird,
dann stecken Menschen dahinter,
denen diese Mokassins nicht fremd sind.

Ein Letztes noch:
Ich freue mich sehr darüber,
daß missio in diesem Jahr zum heutigen Weltmissionssonntag
die kleine rote Schleife der Aidshilfe in das Plakataufgenommen hat.
Aidskranke gehören noch immer für viele von uns zu den „Unberührbaren".
Ihre Krankheit wird häufig gerade von Christen
im Zwielicht gesehen.
Aber auch hier gilt es,
wenigstens einen Mond lang in den Mokassins
eines der Betroffenen zu laufen.
Im südlichen Afrika, wo die Krankheit erschreckend grassiert,
sind es Gottseidank vor allem katholische Christen,
die wirklich helfen. 

Bei der Vorbereitungdieser Predigt
ist mir einmal mehr aufgegangen,
wie weit ichselbst davon entfernt bin,
wirklich zu lieben,
und damit zugleich auch wirklich Christ zu sein.
Ich würde Sie gerne anregen,
über diese existentielle Frage unseres Christseins
auch Ihrerseits einmal nachzudenken.

Amen.