Predigt zum 9. Sonntag im Jahreskreis (A)
am 29. Mai 2005
Lesung: Dtn. 11, 18.26-28.32
Evangelium: Mt. 7, 21-27
Autor: P. Heribert Graab S.J.
„Diese meine Worte sollt ihr auf euer Herz
und auf eure Seele schreiben.
Ihr sollt sie als Zeichen um das Handgelenk binden.
Sie sollen zum Schmuck auf eurer Stirn werden."

Bis auf den heutigen Tag nehmen orthodoxe Juden
diesen Text aus der heutigen Lesung sehr wörtlich:
Beim Gottesdienst binden sie Gebetsriemen (Tefillin)
um den linken Arm und um die Stirn.
Auf dem Stirnband befindet sich eine Kapsel,
die vier Abschnitte aus der Tora enthält.

Weil Jesus solche Bräuche als pure Äußerlichkeit
des öfteren kritisiert hat,
meinen wir als Christen, darüber himmelhoch erhaben zu sein.
Aber gerade als katholische Christen  haben wir
zu einem überheblichen Lächeln nicht den geringsten Grund.
Denn sowohl unsere Liturgie,
als auch unsere traditionelle Frömmigkeit
leben von einer Fülle solcher Symbole.
Leider sind auch unsere religiösen Symbole
gar zu oft oberflächlich und veräußerlicht.
Denken Sie nur daran, wieviele Menschen heute
ein kleines Kreuzchen an einer Halskette tragen,
ohne daß dies auch nur die geringste Bedeutung für sie hat.
Oder denken Sie daran, wie häufig Sie selbst
z.B. das Kreuzeichen machen,
ohne irgendetwas dabei zu denken.

Jesus wendet sich nicht gegen Zeichen und Bräuche des Glaubens.
Er hat etwas gegen deren Sinnentleerung!
Das Stirmband der Juden mit den Worten der Weisung Gottes
bringt zeichenhaft zum Ausdruck:
Gottes Wort soll mein Denken bestimmen
und mein Herz erfüllen.
Genau darum aber geht es auch in der Botschaft Jesu:
„Ich bin nicht gekommen, das Gesetz und die Propheten aufzuhenben,
sondern um sie zu erfüllen...
Und wer diese „Weisungen Gottes" hält und sie halten lehrt,
der wird groß sein im Himmelreich." (Mt. 5, 17-19)
Oder hören sie noch einmal die Botschaft des heutigen Evangeliums:
„Wer diese meine Worte hört und danach handelt,
ist wie ein kluger Mensch, der sein Haus auf Fels baute."

Und jetzt Hand auf‘s Herz:
•    Wer von uns trägt das Wort Gottes wirklich in seinem Herzen?
•    Wessen Denken ist wirklich durch Gottes Wort bestimmt?
•    Wer läßt sich wirklich auch im Alltag davon leiten?

Wenigstens die Älteren von uns haben früher einmal
eine Kurzfassung der „Zehn Gebote" auswendig gelernt.
Wer von uns kennt sie denn noch ???
Die moderne Pädagogik hält nicht mehr viel
vom Auswendiglernen.
„Zehn Gebote"? - Da war doch was?!
Wem von den Jüngeren unter uns sind sie denn wirklich vertraut?

Und doch sind diese „Gebote" ein wesentlicher Kern dessen,
was im Sinne Jesu keinesfalls aufgehoben werden darf.
Nur ein „unvernünftiger" Mensch kann überhaupt
auf eine solche Idee kommen.
Und der baut dann das „Haus seines Lebens" auf Sand.
Dessen Leben kann einem Sturm nicht standhalten;
es stürzt in sich zusammen und wird völlig zerstört.

Auf dem Hintergrund der heutigen Sonntagslesungen
habe ich Ihnen die „Zehn Gebote" aufgeschrieben
und möchte sie Ihnen mitgeben auf den Heimweg.

Nehmen wir uns auch hier ruhig die Zeit,
diese Gebote wenigstens kurz zu bedenken:

Zunächst stellt Gott sich vor als der befreiende Gott.
Und dann folgen die ersten drei Gebote,
die alle zum Ausdruck bringen, was es bedeutet,
sich zu diesem befreienden Gott zu bekennen.

Wenn da gesagt wird,
wir sollten den Namen Gottes nicht mißbrauchen,
dann ist damit sicher nicht gemeint,
daß uns hier und da der Geduldsfaden reißt:
„Herrgott nochmal!"

Wohl ist es Mißbrauch,
Gott vor den Karren eigener Interessen zu spannen;
mit Seinem Namen einen Krieg zu rechtfertigen:
„Gott mit uns";
Ihn zu benutzen zur Begründung einer menchenverachtenden Politik;
oder Ihn auch nur als „Knüppel-aus-dem-Sack"
in der häuslichen Pädagogik einzusetzen.
In all diesen Beispielen setzen wir an Gottes Stelle „Götzen" -
die Götzen unserer eigenen Interessen und unserer Macht.

Und natürlich geht es auch um „Götzendienst",
wenn wir den Tag des Herrn oder Seine Feste nicht heilig halten.
Dann ist uns schlichtweg anderes wichtiger.
Immer wieder geht es heute darum,
die Geschäfte auch sonntags zu öffnen
und überhaupt den Wirtschaftsbetrieb am Tag des Herrn aufrecht zu erhalten.
Wie so oft, bedeutet auch hier die Geringachtung Gottes
zugleich Geringachtung von Menschen:
Den Verkäuferinnen und Verkäufern
wird der wöchentliche Ruhetag und der Tag des Herrn gestohlen.
In der hinter uns liegenden Woche, am Fronleichnamstag
sind wieder Scharen von Menschen - darunter auch „gute Christen" -
in unsere Stadt einfallen,
um den freien Tag in Hessen oder im Eichsfeld
dazu zu benutzen einzukaufen.
Auf deutsch gesagt: Das ist Götzendienst!

In den dann folgenden Geboten geht es um den Menschen
und um die Würde des Menschen und seines Lebens.
Aber auch da geht es letztlich um Gott selbst:
Denn der Mensch ist Gottes Ebenbild
und ganz persönlich und einmalig wurde er von Gott selbst
bei seinem Namen in dieses Leben gerufen.

Das vierte Gebot:
Die Eltern haben sich bei Zeugung und Geburt ihrer Kinder
- bewußt oder unbewußt -
in den Dienst Gottes gestellt.
In ihnen ehren wir den Schöpfergott selbst.
Wie erbärmlich es um diese liebende Ehrfurcht
in unserer Gesellschaft bestellt ist,
wird an allen möglichen Ecken und Enden sichtbar:
Unsere Gesellschaft hat weder Zeit, noch Geld,
sich wirklich ehrfurchtsvoll und liebevoll
um alt gewordene Mütter und Väter zu kümmern.
Deren Pflege wird in Minuten abgerechnet.
Sie selbst entscheiden sich für ein anonymes Grab,
weil sie ihren Kindern Grabpflege nicht „zumuten" möchten
und liebende Ehrfurcht gar nicht erst erwarten.
Die Kehrseite ist:
Viele junge Leute „verzichten" von vornherein darauf,
Kindern das Leben zu schenken.
Soll Gott selbst schauen,
wie Er das Problem neuen Lebens löst.
Der Beruf, die Karriere, der Urlaub, das Auto -
all das ist wichtiger: Götzendienst!

Um die Würde und Unantastbarkeit
eines jeden menschlichen Lebens
geht es im fünften Gebot.
Wieder bilden die Achtung vor dem Leben des Menschen
und die Ehrfurcht vor dem Schöpfer und Herrn des Lebens
eine unauflösliche Einheit.
Wer menschliches Leben zerstört,
treibt nicht nur Götzendienst -
viel schlimmer: Er macht sich selbst zum Herrn des Lebens,
zum Götzen.
Es scheint besonders schwer zu sein,
Gott vorbehaltlos als den Herrn des Lebens anzuerkennen.
Die Menschheit, auch die Christenheit,
hat es bis auf den heutigen Tag nicht wirklich gelernt:
Aktuelle Debatten und aktuelle Praxis
belegen das auf eine erschreckende Weise:
•    Produktion embryonaler Stammzellen,
•    Abtreibung, aktive Sterbehilfe oder besser: Euthanasie,
•    Folter und Todesstrafe,
•    Terror, Gegenterror und Krieg...

Zu den folgenden Geboten werden Sie selbst
problemlos die aktuellen Bezüge entdecken -
sie liegen sozusagen „auf der Straße".
Nur einige Stichworte möchte ich noch nennen:
Von Liebe losgelöste Sexualität,
die den anderen Menschen „als Mittel zum Zweck" mißbraucht;
überhaupt sexueller Mißbrauch;
und selbstverständlich Ehebruch.
Dann im siebten und achten Gebot
die Verletzung menschlicher Rechte
durch Diebstahl, Ausbeutung und Betrug,
durch Ehrabschneidung, falsches Zeugnis und Verleumdung.

Und schließlich die beiden letzten Gebote,
in denen bereits vorweggenommen wird,
was dann in der Bergpredigt Jesu
ganz in den Mittelpunkt rückt:
All dein Tun hat seine Wurzel in deinem Herzen.
Nicht erst die ausgeführte Tat verletzt Menschen
in ihren Rechten und in ihrer Würde.
Ausschlaggebend ist vielmehr unser Denken und Fühlen,
ausschlaggebend ist unsere innere Einstellung
dem konkreten Menschen gegenüber
und letztendlich Gott gegenüber.

Im Licht dieser beiden letzten Gebote
und dann natürlich im Licht der Bergpredigt
sollten wir immer und immer wieder
•    unsere Grundhaltungen reflektieren
•    und selbst unsere geheimsten Gedanken,
•    und das, was wir oft unreflektiert daherreden,
•    und selbst unsere Träume sollten wir auf den Prüfstand stellen.

Im Licht dieser beiden letzten Gebote und der Bergpredigt
sollten wir auch die Wahlprogramme
und die Hintergrundpapiere der Parteien abklopfen.
Im Licht dieser beiden letzten Gebote und der Bergpredigt
sollten wir selbst die Stammtischparolen
und das, was aus den Hinterzimmern der Politik herausdringt,
ernst nehmen.
Die Menschenwürde wird zuallererst in Gedanken zu Grabe getragen.
Und das um so rücksichtsloser dort,
wo bereits vorher der Glaube an Gott zu Grabe getragen wurde.

Amen.