Predigt zum 24. Sonntag im Jahreskreis (A)
am 11. September 2011
Lesung: Sir. 27, 30 - 28, 7
Evangelium: Mt. 18, 21 - 35
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Die Lesungen dieses Sonntags sind wegweisend
für eine Humanisierung der Menschheit.
Selbstverständlich hat der Jesus-Sirach-Text zunächst einmal
das Zusammenleben von Juden
in einer hellenisierten Umwelt vor Augen.
Sodann geht es beiden Texten um das Zusammenleben
von christlichen Gemeinden in einer nichtchristlichen Umgebung.
In jedem Fall sind diese Texte für uns heute hochaktuell,
nicht zuletzt insofern wir
in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft leben.
Denn heute wie damals
haben diese Texte eine missionarische Intention:
Die Art und Weise, wie wir einander
und den Menschen unseres Umfeldes begegnen,
kann und soll ‘ansteckend’ wirken
für die Kommunikation von Menschen überhaupt.

Damit legen unsere Lesungen ‘die Latte sehr hoch’!
Vergebung immer und immer wieder und unter allen Umständen -
das scheint uns schon ganz persönlich
als ein nahezu unerreichbares Ideal.
Und dann noch dieser Anspruch,
durch unser Beispiel Versöhnung und Vergebung
zu einer Grundhaltung werden zu lassen
für die Begegnung von Menschen in dieser Gesellschaft
und darüber hinaus sogar
für das Verhältnis von Völkern untereinander.

Wie zentral dieser Anspruch in den Augen Jesu Christi ist,
manifestiert sich im ‘Vater unser’.
Dort ist das Anliegen der Vergebung
auf einen ganz kurzen Nenner gebracht:
“Vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.”
In dieser Bitte steckt schon die erste schwierige Hürde,
die wir auf dem Weg zur Vergebung nehmen müssen:
Die Einsicht in unsere eigene Schuld und Fehlerhaftigkeit.
Und schon vor dieser Hürde
scheuen wir wie überzüchtete Rennpferde zurück.

Schon wenn wir auf harmlose Fehler, die uns unterlaufen sind,
angesprochen werden, wiegeln wir ab:
“Ich habe keinen Fehler gemacht! - Ich doch nicht!”
Eigene Fehler, selbst Bagatellfehler, zuzugeben -
daran hindern uns spontane Ängste,
vor allem die Angst um’s eigene Image:
Was werden die anderen von mir denken?
Aber auch: Wie stehe ich vor mir selber da?

Erst recht fällt es ungeheuer schwer,
sich selbst wirkliche Schuld einzugestehen
oder gar vor anderen für eigene Schuld gerade zu stehen.
Gruppen, Institutionen oder auch ganze Völker
reagieren da nicht anders als Einzelne.
Wie schwer haben wir uns (ich sage ganz bewußt wir !)...
Wie schwer haben wir uns als Deutsche getan,
die Schuld der Nazizeit als eigene Schuld zu akzeptieren,
diese Schuld aufzuarbeiten,
für diese Schuld um Vergebung zu bitten
und diese Schuld nach Möglichkeit wieder gut zu machen!
Oder schauen wir aktuell auf unsere (!) Kirche
und auf die Mißbrauchsfälle, die im letzten Jahr öffentlich wurden.
Wie lange wurde da geleugnet, verharmlost und vertuscht?!

Wie soll da je Vergebung möglich sein,
wenn ich nicht einmal in der Lage bin,
zur eigenen Schuld zu stehen?!
Wird da nicht die Vater-unser-Bitte
um Gottes Vergebung unserer Schuld
zur nichtssagenden, leeren Floskel?!

Wer aber eigene Schuld klein redet oder gar nicht sehen will -
wird der nicht immer in Versuchung sein,
die Schuld bei anderen zu suchen
und die Schuld anderer groß zu reden?
Er wird eher dazu neigen, anzuklagen statt zu vergeben.
Und wenn er schon das Wort ‘Vergebung’ in den Mund nimmt,
wird er es vielfach ‘von oben herab’ tun.

Sie alle kennen das Wort Jesu:
“Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders,
aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? 
Wie kannst du zu deinem Bruder sagen:
Laß mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! -
und dabei steckt in deinem Auge ein Balken?”      (Mt. 7, 3-4)
Die Frage Jesu kann sinngemäß auch lauten:
“Wie wirst du deinem Bruder
den ‘Splitter’ seiner Schuld glaubhaft vergeben können,
wenn du den ‘Balken’ deiner eigenen Schuld
leugnest, verharmlost oder vetuschst?

Dies alles vorausgesetzt, stellt sich noch die Frage:
Ist es menschlich überhaupt möglich,
jedwede Schuld zu vergeben?
Kann z.B. ein Mißbrauchsopfer seinem Peiniger wirklich vergeben,
wenn seine Menschenwürde - zudem in einem so intimen Bereich -
über Jahre zutiefst verletzt wurde?
Und ist es menschlich möglich,
auch Verletzungen anderer Art, wenn sie immer wieder geschehen,
nicht nur ‘siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal’ zu vergeben?
Kann Jesus diesen Anspruch allen Ernstes aufstellen?

Für Jesus ist Vergebung zentral - wie kaum etwas sonst!
Immer wieder kommt Er darauf zurück.
Und Er selbst vergibt Seinen Peinigern noch am Kreuz!
Im heutigen Evangelium unterstreicht Er durch Sein Gleichnis
die Anforderung der Vergebung
als etwas ganz und gar Selbstverständliches.
Diesem Diener wurde eine unvorstellbar große Schuld erlassen.
Und ausgerechnet er verweigert seinem Kollegen
den Erlaß einer vergleichsweise lächerlich geringen Schuld.
Jeder auch nur halbwegs gerecht denkende Mensch
wird ähnlich reagieren wie der ganze Hof des Königs im Gleichnis:
Ein solches Verhalten ist einfach unfaßbar
und auf gar keinen Fall zu dulden.

Da scheint sich nun ein Widerspruch aufzutun:
Dem hartherzigen Diener vergibt der König diese Schuld nicht.
Im Gegenteil - er bestraft ihn mit äußerster Härte.
Dieser König also
- und der steht im Gleichnis schließlich für ‘Gott’ -
hält sich nicht an die Forderung,
sogar siebenundsiebzig mal zu vergeben.
Dazu fällt mir ein anderes,
oft als rätselhaft empfundenes Jesus-Wort ein:
“Jede Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben werden, aber die Lästerung gegen den Geist wird nicht vergeben.” (Mt. 12, 31)

Nun sollte uns klar sein,
daß Gottes Geist schlechthin der Geist der Liebe ist,
also auch der Geist der Vergebung.
Zugleich aber ist Gottes Geist der Geist der Gerechtigkeit!
Wie geht das zusammen?
Es ist zwar nicht rätselhaft,
aber für uns doch ein undurchschaubares Geheimnis:
Für Gott ist möglich, was wir nicht einmal denken können:
Er bringt Liebe und Gerechtigkeit ‘unter einen Hut’!
Wir können darauf nur im Glauben vertrauen.

Es mag also durchaus Grenzfälle geben
- jedenfalls wenn es um die ‘Sünde gegen Gottes Geist’ geht -
in denen Vergebung - menschlich gesprochen - nicht möglich ist.
Aber selbst in diesem Fall
steht dem Menschen nicht das Recht der Rache zu!
Wir können eine solche Situation
nur vertrauensvoll in Gottes Hände legen.

Wenn wir ganz generell und ohne Ausnahme
auf jede Art von Rache verzichten -
sowohl privat, als auch im öffentlichen Raum;
und wenn wir darüber hinaus
- von jenen wenigen Grenzfällen abgesehen -
immer und immer wieder ernsthaft um Vergebung bemüht sind,
dann wird sich diese Welt fundamental verändern -
im Kleinen wie im Großen.
Dann wird diese Welt mehr und mehr zu einer Welt,
in der zu leben sich lohnt.
Dann werden wir eine kleine Ahnung davon bekommen,
was das heißt:
Gottes Reich ist in dieser Welt schon angebrochen.

Amen.