Predigt zum 14. Sonntag im Jahreskreis (B): 
am 09. Juli 2000
Predigt zum Sonntagsevangelium: Mk. 6, 1b - 6.
P.Heribert Graab S.J.
„Ein Urteil läßt sich widerlegen, aber niemals ein Vorurteil",
heißt es in einem Aphorismus von Marie-Luise von Ebner-Eschenbach.
Wir haben ein bestimmtes Bild von den Menschen,
die wir zu kennen glauben.
Es vereinfacht das leben ungemein,
wenn wir nicht ständig auf Neues gefaßt sein müssen,
wenn wir einen Menschen sozusagen in einer Schublade ablegen können.
Ein Vorurteil ist ein Mechanismus,
mit dem wir einen Menschen „abhaken".

So etwa hatte sein Heimatort Nazareth
diesen Jesus ‚abgehakt‘:
Den kennen wir schließlich von klein auf.
Das ist einer von uns:
Der Sohn der Maria.
Der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon.
Ein einfacher Zimmermann,
oder besser: Ein Tagelöhner am Bau.
Und ausgerechnet der will jetzt ‚was Besseres‘ sein.
Ausgerechnet der gibt sich nun als ‚Prophet‘,
will in Gottes Vollmacht zu uns reden
und uns gar sagen, ‚wo es lang geht‘.
Mehr noch: Der mutet uns wahrhaftig zu umzukehren."
So nahmen sie Anstoß an ihm und lehnten ihn ab.

Wir sollten uns nicht über die Bürger von Nazareth erheben!
Wenn wir ehrlich sind, wissen wir,
wie wenig wir uns von ihnen unterscheiden.
Selbstverständlich haben wir Vorurteile - wie sie.
Selbstverständlich haken wir Menschen ab - wie sie.
Checken Sie in Gedanken mal Ihre Familie,
Ihre Nachbarschaft, Ihre Kolleginnen und Kollegen durch,
und fragen Sie sich ehrlich, 
inwieweit Ihr Denken über diesen oder jenen Menschen 
Ihrer Umgebung festgefahren ist.
Ganze Gruppen von Menschen stecken wir in eine Schublade!
Heute kann man z.B. schon wieder hören:
„Ich habe keine Vorurteile gegenüber Juden,
aber geschäftstüchtig sind sie alle,
und besser ist, du traust ihnen nicht über den Weg!"
Wenn in der Zeitung von einem Verbrechen die Rede ist,
wird garantiert ausdrücklich vermerkt,
daß es sich „mal wieder" um einen Ausländer handelt.
So werden Vorurteile produziert
und die Ablehnung von Fremden, wenn nicht gar Fremdenhaß gefördert.

Damals in Nazareth war Jesus das Opfer von Vorurteilen.
Er ist es übrigens noch heute.
Auch wir wissen natürlich aus unserer religiösen Erziehung,
aus der Bibel und aus dem Religionsunterricht,
„wer das ist".
Und wir haben ein ziemlich fest umrissenes Bild von ihm.
Und alles, was in dieses Bild nicht rein paßt,
ist für uns auch nicht Wirklichkeit.
Damit leugnen wir im Grunde genommen,
daß Jesus lebt, daß er auch in unserer Zeit am Werke ist. 
Wir lassen ihn nicht sagen und tun,
was unserem Bild von ihm widerspricht.
Wir nehmen Anstoß an ihm und lehnen ihn ab.
Wir legen dem Geist Jesu Christi, dem Geist Gottes
Fesseln an - die Fesseln unserer Vorurteile.
So kann er auch unter uns keine „Wunder" tun,
d.h. er kann nichts (oder doch nur wenig) bewirken -
wie damals in Nazareth.

Die Geschichte des Evangeliums hat aber noch eine andere Seite:
Jesus ist nicht nur das Opfer von Vorurteilen.
Er widersteht diesen Vorurteilen zugleich.
Er steht für das ein, was seine Sendung ist.
Er läßt es schließlich sogar darauf ankommen,
für seine Botschaft der Umkehr zu Liebe und Gerechtigkeit
gefoltert und ans Kreuz genagelt zu werden.
Ein anderes Wort von Marie-Luise von Ebner-Eschenbach
trifft auf ihn jedenfalls nicht zu:
„Nicht macht uns feiger als der Wunsch,
von allen geliebt zu werden."

Jesus weiß sich von Gott geliebt.
Dieses Wissen bestimmt sein Leben.
Er weiß sich von Gott berufen -
wie auch Ezechiel, zu dem Gott sagte:
„Stell dich auf deine Füße, Menschensohn,
ich will mit dir reden."
Wer diesen Ruf in sein Leben umsetzt, 
wer also aufrecht steht, anstatt zu kriechen,
der bietet immer auch Angriffsfläche.
Man exponiert sich, wenn man sich aufrecht hinstellt.
Adam und Eva im Paradies oder auch Kain haben sich versteckt,
weil sie - in der Folge ihres Unrechtes - Angst hatten.
Wir selbst möchten uns nicht selten klein und unscheinbar machen
aus Angst vor dem Urteil anderer. 
Wer aber gegen das Unrecht und für Gottes Gerechtigkeit offen einsteht,
für den ist allein sein Stand vor Gott ausschlaggebend. 

Aufrechtes Stehen bedarf der Freiheit.
Ein solches Stehen provoziert - nicht nur in Nazareth.
Nehmen Sie zum Beispiel Sophie Scholl, Franz Jägerstätter
oder meinen Mitbruder Alfred Delp.
Allein ihr klares und sicheres Stehen 
vor dem sogenannten Volksgerichtshof reichte schon aus,
um einen Freisler und seine Konsorten zur Weißglut zu bringen.
Diese Menschen hatten Selbststand.
Das war kein Stehen aus Unterwerfung,
sondern ein Stehen zu sich selbst
und zu dem, was sie glaubten und für richtig hielten.

Im Vertrauen auf Gott
und im österlichen Glauben an den,
der selbst aus dem Tode auferstand,
können auch wir in unserem Selbststand wachsen.
Eine solche Haltung gilt es zu gewinnen -
auch gegen manche Zweifel in uns selbst
und vor allem gegen das Urteil anderer.
Eine solche freiheitliche und in Glauben und Vertrauen aufrechte Haltung
wird uns frei machen zu einem frohen und auch andere stärkenden
prophetischen Zeugnis für unseren Gott.
Bitten wir in all unseren Gebeten immer wieder
um diese Kraft zum aufrechten Gehen und Stehen.

Amen.