| Jesus wird von seiner Umgebung wahrgenommen als ein großer Prophet,
 der in der Mitte seines Volkes aufgetreten ist.
 Ein Prophet jedoch ist keineswegs so etwas
 wie ein Wahrsager oder Kaffeesatzleser.
 Ein Prophet ist vielmehr jemand, der seine Finger
 in schwärende Wunden legt;
 jemand, der Kritik übt an öffentlichen Zuständen
 in Gesellschaft und Kirche.
 Im Evangelium des heutigen Sonntags
spricht Jesus als Prophet.
 Er wendet sich an Pharisäer und Schriftgelehrte,
 d.h. er wendet sich an fromme, theologisch gebildete
 und engagierte Kreise,
 die religiös und politisch die tragende Schicht
 des Judentums dieser Zeit bilden.
 Auf den Anlaß der kritischen Worte Jesu
müssen wir nicht näher eingehen:
 Es geht nicht um Hygiene, sondern um rituelle, kultische Reinheit,
 in den Augen Jesu um eine reine Äußerlichkeit,
 die diese Pharisäer furchtbar wichtig nehmen,
 ja sogar zur religiösen Bekenntnisfrage machen.
 Und da schlägt nun die massive und substantielle Kritik Jesu
scharf wie ein Blitz ein:
 „Es ist sinnlos, wie Ihr Gott verehrt;
 was Ihr lehrt, ist nichts anderes als Menschensatzung."
 „Ihr gebt Gottes Gebot preis,
 Ihr setzt sein Wort außer Kraft,
 weil Euch Eure eigenen Überlieferungen wichtiger sind."
 „Ihr vernichtet Gottes Wort!"
 Eine schärfere oder zentralere Kritik 
an religiös und kirchlich engagierten Menschen,
 ja an den von ihnen verantworteten religiösen Institutionen
 ist nicht mehr möglich.
 Und wir tun gut daran,
 nicht mit dem Finger auf die Pharisäer der Zeit Jesu zu zeigen,
 sondern uns selbst den Spiegel vorzuhalten.
 Nehmen Sie etwa das konkrete Beispiel des Evangeliums: 
Die vor Gott geschuldete Fürsorgepflicht für die Alten.
 Fällt Ihnen da nicht spontan die aktuelle Rentendebatte ein?
 Die Pharisäer damals entzogen sich ihren Verpflichtungen
 und bedeckten ihre moralische Blöße mit einem religiösen
Mäntelchen.
 Wir begründen die Aufweichung der Solidarität mit den Alten
 durch die viel banaleren Hinweise auf Lohnnebenkosten,
 Arbeitsmarktsituation, Standort Deutschland.
 In Wirklichkeit geht es um Single-Mentalität,
 um individualistische Selbstverwirklichung,
 um die Aufkündigung verbindlicher Beziehungen.
 Dabei geht die Entsolidarisierung den Alten gegenüber
 Hand in Hand mit der Entsolidarisierung zukünftigen Generationen
gegenüber:
 Da heißt es praktisch: Nach uns die Sintflut!
 „Sehr geschickt setzt ihr Gottes Gebot außer Kraft
 und orientiert euch an Denk- und Verhaltensmustern,
 die die logische Konsequenz einer seit mehr als zweihundert Jahren
 zunehmenden Säkularisierung sind."
 Oder schauen Sie auf die aktuelle Diskussion
um Rechtsradikalismus und Gewalt in unserer Gesellschaft:
 Wie sehr wir selbst in menschliche und durch Gewalt geprägte
 Überlieferungen verstrickt sind,
 zeigt der Ruf nach strengeren Gesetzen, mehr Polizei und härteren
Strafen.
 Während wir empört sind über die Gewalt auf unseren
Straßen,
 halten wir TV-Gewalt in unseren Wohnzimmern für selbstverständlich
 oder wenigstens für unvermeidlich,
 dulden wir bei unseren Kindern Kriegs-Spielzeug, Schießprügel
 und gewalterfüllte Videospiele -
 nicht selten mit der fragwürdigen Entschuldigung:
 „Ist doch ein Junge!"
 Wir stecken ganz tief drin in Widersprüchen
und Gottes Wort spielt auch für uns keine Rolle:
 „Selig die Friedensstifter!" Und:
 „Frieden lasse ich euch zurück;
 meinen Frieden gebe ich euch.
 Nicht wie die Welt ihn gibt, gebe ich ihn euch."
 Wir selber seid diejenigen,
die das Wort Gottes vernichten!
 Ein Beispiel ist auch die Forderung Gottes,
 unser Brot mit den Hungernden zu teilen.
 Gewiß, wir bringen in absoluten Zahlen und alle zusammen
 nennenswerte Beträge z.B. für Misereor auf.
 Aber wir täuschen damit auch uns selbst darüber hinweg,
 daß in Wirklichkeit von Teilen keine Rede sein kann:
 Brot für die Schwestern und Brüder - ja!
 Aber das volle Menu mit Vorspeise, Steak, Beilagen und Dessert
 behalten wir für uns.
 Dann ist da noch dieses Gesetz über homosexuelle Partnerschaften
in der Mache:
„Konservative" - das sind ja präzise jene,
 denen menschliche Überlieferungen wichtig sind -
 und auch maßgebliche Christen haben schon massiven Widerstand
angekündigt.
 Aber auch in diesem Zusammenhang muß ja wenigstens die Frage
erlaubt sein,
 ob nicht menschliche Überlieferungen und althergebrachte Tabus
 Gottes Wort aushebeln,
 z.B. das Wort „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst!"
 Wenn wir erst einmal anfangen
die Kritik Jesu ernsthaft zu bedenken,
 und auf heutige Verhältnisse in Kirche und Gesellschaft zu beziehen,
 dann können wir nur erschrecken,
 in welchem Ausmaß wir das Wort Gottes zu vernichten pflegen
 durch gesellschaftliche Überlieferungen,
 Gewohnheiten, Vorurteile, und Moden.
 Und erschrecken könnten wir wohl auch,
wenn wir im Licht der Kritik Jesu
 unsere ganz persönlichen Lebensentscheidungen reflektieren würden.
 Wer von uns fragt denn in den wesentlichen Situationen des Lebens
 nach Gottes Wort -
 bei der Berufswahl etwa, bei der Eheschließung,
 in der Verwaltung unseres Geldes,
 in der Einteilung unserer Zeit
 oder evtl. auch in der Fürsorge für die alten Eltern.
 Seien wir dankbar, daß wir nicht alleine die Kirche sind.
Seien wir dankbar, daß Christus in seiner Kirche lebt
 und daß er uns hier und da aufschreckt und im Gewissen beunruhigt.
 Diese Gnade des Erschreckens und der Beunruhigung
 sei mit uns allen.
 Amen. |