Predigt 23. Sonntag im Jahreskreis 
am 10. September 2000
Textgrundlage: Das Tagesevangelium (Mk. 7, 31 - 37) - Die Heilung des Taubstummen.
P.Heribert Graab S.J.
Im Lärm einer amerikanischen Großstadt
war ein weißer Amerikaner gemeinsam mit einem Indianer unterwegs.
Plötzlich hielt der Indianer inne:
„Hörst Du? Das Zirpen einer Grille mitten in dieser Stadt!"
Der weiße Amerikaner hatte nichts gehört:
„Ihr Indianer habt doch das feinere Gehör!"
Wenig später läßt der Indianer mit Absicht 
eine kleine Münze auf die Straße fallen.
Der weiße Amerikaner horcht auf
und sucht nach der Münze.
„Dein Gehör ist nicht schlechter als meins.
Nur: Jeder hört das, was ihm wichtig ist:
Ich hörte die Grille,
Du hörst das Geld."

Eine tiefe Weisheit steckt in dieser Geschichte,
die uns lehrt:
Möglicherweise sind wir alle partiell taub.
Wir alle bedürfen vielleicht der heilenden Berührung,
wie sie uns im Evangelium geschildert wird.
Ich möchte Sie zunächst zu einer kleinen Reflexion einladen.
Nehmen wir uns einen Augenblick Zeit für die Frage:
Was höre ich? Und was höre ich nicht?
Wo bin ich vielleicht partiell taub?

- kurze Stille -

Immer wieder höre ich in Gesprächen über das Gebet die Klage:
„Gott antwortet mir nicht.
Mein Beten ist nichts als ein Monolog."
Ob diese Klage möglicherweise ein Indiz
für partielle Taubheit ist???
In der Taufe gibt es zwar den Effata-Ritus:
„Der Herr öffne dir - wie dem Taubstummen -
Ohren und Mund,
daß du sein Wort vernimmst 
und den Glauben bekennst!"
Aber der wirkt natürlich - wie alles Sakramentale -
nicht magisch.
Wer sein Gehör für Gottes Stimme nicht pflegt,
wird es verlieren -
wie wir auch natürliche Fähigkeiten verlieren,
wenn sie nicht trainiert und gepflegt werden.
Maria z.B., die Mutter Jesu, konnte wie eine Antenne
Gottes Wort aufnehmen,
weil ihre Beziehung zu Gott auch ihren Alltag bestimmte,
weil das Gebet ein fester Bestandteil ihres Lebens war,
und weil sie im Gebet auch still wurde,
anstatt zu schwätzen und Gott „zuzulabern",
wie wir heute im Jargon sagen würden.

Die Exerzitien des heiligen Ignatius 
sind so etwas wie ein Gebetsschule.
Und diese Exerzitien leben von der Stille.
In der Stille trainieren sie das Hinhören auf Gott.

In einem modernen geistlichen Lied heißt es:
„Wenn du hörst, hör nicht allein,
steck andre an, Hören kann Kreise ziehn.
Wenn du hörst, hör nicht für dich,
hör für mich mit..."
Taubheit und Stummheit stehen in einer inneren Beziehung zueinander.
Deshalb ist im Effata-Ritus 
nicht nur vom Hören, sondern zugleich vom Bekennen die Rede.
Beides bedingt sich gegenseitig:
Das Hören auf Gottes Wort
und diese Botschaft weitertragen.
Es hilft nicht zu klagen;
vielmehr kommt es darauf an,
das Eine wie das Andere täglich einzuüben.

Wenn das Evangelium uns anregt,
über unsere partielle Taubheit und Stummheit nachzudenken,
dann dürfen wir nicht übersehen,
daß wir auch im Umgang miteinander 
für manche Not taub sind
und oft in partieller Stummheit das rechte Wort nicht finden.
Auch das wird in einem neuen geistlichen Lied zum Ausdruck gebracht:
„Ich schweige, wenn ich reden sollte,
und wenn ich einmal hören sollte,
dann kann ich‘s plötzlich nicht."

Insbesondere sind unsere Ohren regelrecht verkrustet,
wenn es darum geht, 
den oft lautlosen Schrei der Armen zu hören,
den Schrei der Entrechteten,
den Schrei der Mund-tot-Gemachten.
Weil sie keine eigene Stimme haben,
sind sie darauf angewiesen,
daß wir ihnen unsere Stimme leihen.
Wenn wir heute vor Jesus treten, 
um ihn wie die Freunde des Taubstummen zu bitten:
„Herr, rühre uns an",
dann muß diese Bitte konkret sein:
Herr, brich unsere verkrusteten Ohren auf
für die Not um uns;
und befreie uns von den Fesseln, die unsere Zungen lahmlegen,
damit wir sprechen können für die ohne Stimme,
so wie die Freunde des Taubstummen für den sprachen,
der selbst dazu nicht in der Lage war.

Was wir selbst dazu beitragen können, ist:
Daß wir uns zusammentun!
Viele hören mehr als einer allein.
Und viele werden auch eher gehört als einer allein.
Viele Initiativen und sogenannte NGOs
praktizieren mit wachsendem Erfolg
dieses gemeinsame Hinschauen und Hinhören,
sowie das Sprechen für die, die‘s nicht können.
Viele Gruppen dieser Art gibt‘s auch in Göttingen.
Nur ein Beispiel möchte ich nennen:
„amnesty international" tut wirksam den Mund auf
für politische Gefangene in aller Welt.

Und hier und da versuchen auch Gruppen unserer Gemeinde,
den Schrei Notleidender zu hören
und ihnen in der Öffentlichkeit eine Stimme zu geben.
Wir versuchen es beispielsweise 
seit jetzt zehn Jahren im Kontext unserer Mittagstischarbeit.
Wir haben es auch immer wieder versucht
im Umfeld des Arbeitskreises „Kirche und Asyl".

Um diese Versuche jedoch wirksam fortführen zu können,
brauchen wir für beide Projekte
immer wieder neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Wenn wir heute Gott bitten,
uns von unserer partiellen Taubstummheit zu erlösen,
dann mag vielleicht auch der eine oder die andere
sensibel werden für diese Einladung.

Amen.