Predigt zum 8. Sonntag im Jahreskreis B
am 27. Februar 2000
Evangelium: Mk. 2, 18-22
Thema: Spendenskandale und ihre Wurzeln
Autor: Heribert Graab S.J.
Als Christen können wir nicht schweigen zu dem, was sich augenblicklich rund um den "Spendenskandal" in der Politik abspielt. Die letzten Verse des heutigen
Sonntagsevangeliums (Mk. 2, 21 und 22) von den "neuen Flicken auf einem alten Kleid" regen dazu an, nach den Wurzeln der Skandale zu fragen und die
Mitverantwortung von Christen für eine Erneuerung der Gesellschaft ins Bewußtsein zu rufen.  

 Aus leider immer noch aktuellem Anlaß 
 möchte ich heute die beiden letzten Verse  
 des Evangeliums zum Thema machen:  
 „Niemand näht ein Stück neuen Stoff auf ein altes Kleid; 
 denn der neue Stoff reißt doch vom alten Kleid ab, 
 und es entsteht ein noch größerer Riß. 
 Auch füllt niemand neuen Wein in alte Schläuche. 
 Sonst zerreißt der Wein die Schläuche; 
 der Wein ist verloren und die Schläuche sind unbrauchbar. 
 Neuer Wein gehört in neue Schläuche." 

 Während der vergangenen Wochen sind wir durch die Medien 
 täglich überschüttet worden mit politischen Skandalen: 
 Die Parteispendenaffäre zog weite Kreise; 
 es wurde offenkundig, wie sehr Politiker verschiedener Couleur 
 staatliche Interessen, Parteiinteressen und auch private Interessen 
 miteinander vermengen und alles aus Steuergeldern bezahlen. 
 Es wurde gelogen, daß sich sie die Balken biegen; 
 wichtige Akten verschwanden spurlos, 
 Computerdaten wurden gelöscht, 
 der Verdacht von Vorteilnahme, Bestechung und Korruption 
 steht im Raum und wird genährt durch ständig neue Enthüllungen. 
 Insbesondere die CDU hat‘s furchtbar gebeutelt: 
 Sie steht auf einmal in einem alten, verschlissenen und zerrissenen Kleid 
 vor den erschrockenen oder auch grinsenden Augen der Öffentlichkeit.  

 Der erste Akt dieses Schauspiels ist noch nicht beendet, 
 da beginnt auch schon der zweite Akt: 
 Die Suche nach neuem Stoff, 
 mit dem man das alte Kleid flicken könnte.  
 Neue Namen, neue Gesichter stehen zur Diskussion. 
 Aber das Problem liegt tiefer: 
 In Kommentaren wird generell eine Reform 
 der Parteiendemokratie angemahnt 
 und speziell eine Reform der CDU „an Haupt und Gliedern". 
 Das geht offenkundig in die Richtung unseres Jesuswortes: 
 Es reichen nicht ein paar neue Flicken; 
 das Kleid selbst muß erneuert werden! 

 Im Lichte des Evangeliums sollten wir  
 jedoch noch einen wesentlichen Schritt weitergehen: 
 Sind nicht die Parteien ein Spiegelbild unserer Gesellschaft? 
 Hat nicht jede Gesellschaft die Parteien, 
 die sie verdient? 
 Lüge, Raffgier, Cliquenwirtschaft, Gruppenegoismus, 
 vielleicht sogar Bestechlichkeit in den Parteien - 
 ist das nicht nur die Spitze eines Eisberges? 
 Wäre nicht in Wirklichkeit selbst die Reform aller Parteien 
 so etwas wie Flickschusterei? 
 Steht nicht vielmehr die gesamte Gesellschaft 
 in einem ausgesprochen schäbigen und verschlissenem Kleid da? 
 Stehen wir nicht vor ähnlichen Problemen 
 in Wirtschaft und Arbeitswelt, 
 in Ämtern und Behörden, 
 in unseren Schulen und Jugendszenen, 
 ja sogar in Ehen und Familien, 
 in der Nachbarschaft und in unseren ganz persönlichen Beziehungen? 
 „Jeder für sich und - nicht einmal mehr - Gott für uns alle": 
 ist dieses egoistische Leitmotiv 
 nicht weitgehend an die Stelle von Moral  
 und sozialen Verbindlichkeiten getreten? 
 Ist nicht sogar die Religion bis hinein in unsere Kirchen 
 in den Sog des Neoliberalismus geraten 
 und zu individueller und beliebiger Bedürfnisbefriedigung verkommen? 

 Wo pochen wir denn noch auf die praktische Relevanz der Zehn Gebote? 
 Unsere Kinder lernen sie nicht einmal mehr. 
 Erwachsene leben sie nicht vor, 
 aber klagen sie von Politikern entrüstet ein, 
 wenn ein Skandal ans Licht der Öffentlichkeit kommt. 
 Das Leitbild der Botschaft Jesu vom „Reich Gottes" - 
 wo spielt es eine Rolle in unserem privaten Zusammenleben, 
 und wie kann es wieder zum Maßstab auch von Politik werden? 

 Viele von uns ziehen sich angesichts der Skandale 
 von der Politik zurück, 
 gehen nicht einmal mehr zur Wahl 
 und überlassen das politische Geschäft anderen. 
 Es gibt immer weniger engagierte Christen 
 in der aktiven Politik: 
 angefangen von der Kommune bis hin zum Bund. 
 Wie ernst nehmen wir selbst die Verantwortung, 
 die uns aufgetragen ist? 
 In wieweit sind wir uns noch dessen bewußt, 
 daß Verantwortung etwas mit „Rede und Antwort stehen" zu tun hat, 
 und daß das auch in der Politik gilt? 
 Welche Konsequenzen hat das, wenn einer sagt: 
 „Ich übernehme die politische Verantwortung"? 
 Schon die „Verantwortung" gegenüber der Gesellschaft 
 ist vielfach zur bloßen Floskel geworden. 
 Um wieviel mehr die „Verantwortung" vor Gott! 

 Es wurde und wird geklagt über den „Werteverlust" in unserer Gesellschaft. 
 Aber wo und wie sollen solche Werte begründet werden, 
 wenn Gott schon in unserem privaten Leben 
 und erst recht in der Gesellschaft zur Quantité négligeable geworden ist? 
 Ohne Verankerung im Absoluten relativieren sich alle Werte 
 und werden ihrerseits belanglos. 
 Wenn es also darum geht, nicht nur neue Flicken auf ein altes Kleid zu nähen, 
 sondern das Kleid selbst - also diese Gesellschaft - zu erneuern, 
 dann ist mehr gefragt als das „C" im Namen einer Partei, 
 mehr auch als Konfessionsmerkmal „rk" auf unserer Steuerkarte, 
 dann ist unser Glaube gefragt, und zwar ein lebendiger Glaube,  
 dessen Licht wir nicht unter den privaten Scheffel stellen, 
 sondern ins dunkle Treppenhaus der Gesellschaft, 
 damit sich niemand den Hals bricht. 

 Amen.