Predigt am 8. Oktober 2000 anläßlich der Synagogenschändungen in Düsseldorf und Berlin
Als biblische Lesungen wurden zu dieser Predigt von P.Heribert Graab S.J. ausgewählt:
ein Auszug aus dem Gebet der Ester (Est. 4)
und ein Auszug aus dem 11. Kapitel des Römerbriefes (Bildrede vom Ölbaum).
In dem Maße, in dem der Nazi-Massenmord an den Juden
für junge Leute verblaßt zum mehr oder weniger trockenen Stoff
von zwei oder drei Geschichtsstunden,
wird Rechtsradikalismus wieder zur Gefahr für unser Land:
„Der Schoß ist fruchtbar noch, der dies gebar!"
Anschläge auf Synagogen in Berlin
und auf die Düsseldorfer Synagoge,
geschändete jüdische Friedhöfe überall in diesem Land
- auch in Göttingen -
anonyme Anrufe und Drohbriefe an die Adresse 
unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens
dürfen uns nicht kalt lassen,
dürfen wir nicht achselzuckend abtun als „Dumme-Jungen-Streiche".

Auf dem Hintergrund des dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte
ist von uns doppelt und dreifach Sensibilität gefordert.
Und als Christen sind wir noch einmal 
- mehr als andere - in die Verantwortung gerufen.
Fürchterliche Judenpogrome des Mittelalters
wurden schließlich von Christen angezettelt.
Und wir können uns nicht damit herausreden,
dies seien Taten einiger Fanatiker gewesen.
Vielmehr wurden diese erschreckenden Morde
gedeckt oder gar forciert durch kirchliche Autoritäten,
und mitgetragen wurden sie durch eine breite Volksbewegung,
die Rache forderte für die Kreuzigung Jesu.

Damals zur Zeit Jesu waren es allerdings nur einige Schreihälse,
die vor Pilatus den Tod Jesu forderten -
auch wenn sie angestachelt wurden durch hochrangige Wortführer.
Dafür d i e Juden schlechthin verantwortlich zu machen,
ist genau so idiotisch, wie es idiotisch ist,
d i e Christen und d i e Kirche bis auf den heutigen Tag
für Verbrechen des Mittelalters verantwortlich zu machen,
wie es auch idiotisch ist, das deutsche Volk schlechthin verantwortlich zu machen
für den Holocaust unseres Jahrhunderts.

Dennoch bleibt da in jedem Fall ein ganz dunkler Fleck:
Zu all diesen Verbrechen hat die große Masse der Menschen geschwiegen
und immer gab es das, was zu Recht ein „Sympathisanten-Sumpf" genannt wird.
Und genau das ist unser Problem auch heute:
„Es ist doch nicht viel passiert" - heißt es.
Und: „Unreife Pubertierende könne man doch nicht ernst nehmen".
Ob es gegen Ausländer, Asylbewerber oder eben auch gegen Juden geht,
an vielen Stammtischen geben biedere Bürger schlimme Witze zum besten.
Man hört sie an, man lacht drüber und erzählt sie weiter.
Und selten ist jemand da, der aufsteht und mit der Faust auf den Tisch haut.

Tag für Tag und zumal Sonntag für Sonntag
feiern wir die Eucharistie als dankbares Gedächtnis Jesu Christi.
Jedesmal hören wir auf die frohe Botschaft Seiner Worte und Seines Lebens.
Immer wieder erfahren und feiern wir, daß dieser Jesus von Nazareth,
zu dem wir uns als Christen bekennen,
sich engagiert auf die Seite der Ausgegrenzten stellte.
Er ergriff für jeden einzelnen von ihnen Partei -
sei es gelegen oder ungelegen.
Er nahm furchtlos in Kauf, daß er sich unbeliebt machte.
Er sah früh schon das Ende am Kreuz auf sich zukommen
und duckte sich dennoch nicht,
verbrannte sich dennoch den Mund,
ging dennoch keine faulem Kompromisse ein.
Und wir???

Und auch das wissen wir sehr wohl:
Jesus selbst war ein Jude -
seiner Abstammung nach und auch in seinem Glauben.
All seine Jüngerinnen und Jünger waren Jüdinnen und Juden.
Die ersten christlichen Gemeinden waren judenchristliche Gemeinden.
Das Zweite Vatikanische Konzil erinnert uns zudem:
„Die Kirche kann nicht vergessen, 
daß sie durch das Volk der Juden,
mit dem Gott aus unsagbarem Erbarmen den Alten Bund geschlossen hat,
die Offenbarung des Alten Testaments empfing
und genährt wird von der Wurzel des guten Ölbaumes,
in den die Heiden als wilde Schößlinge eingepfropft sind."
Damit greift das Konzil auf jenen Text im Römerbrief zurück,
den wir in der zweiten Lesung gehört haben.

Wir haben also unsere eigenen religiösen Wurzeln im Judentum.
Auch uns gilt daher die Mahnung des Paulus:
„Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich!"
Jedweder Antisemitismus wendet sich also nicht nur 
gegen Gottes ersterwähltes Volk und damit gegen Gott selbst;
vielmehr schneidet Antisemitismus uns selbst von unserer Wurzel 
und damit von der Quelle unseres Lebens ab.

Das Konzil geht noch weiter.
Es mahnt uns, die Würde eines jeden Menschen zu achten:
„Wir können Gott, den Vater aller, nicht anrufen,
wenn wir irgendwelchen Menschen, 
die ja nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind,
die brüderliche Haltung verweigern.
Das Verhalten des Menschen zu Gott, dem Vater
und sein Verhalten zu den Menschenbrüdern
stehen in so engem Zusammenhang,
daß die Schrift sagt: „Wer nicht liebt, kennt Gott nicht" (1.Jo. 4,8).
Deshalb verwirft die Kirche jede Diskriminierung eines Menschen
oder jeden Gewaltakt gegen ihn um seiner Rasse oder Farbe,
seines Standes oder seiner Religion willen,
weil dies dem Geist Christi widerspricht."
Damit ist jeder Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus
durch die Kirche verworfen 
und als nicht vereinbar mit dem christlichen Glauben erklärt.

Im Anschluß an das Konzil hat die Würzburger Synode 
der deutschen katholischen Kirche noch um einiges deutlicher
über unser Verhältnis als Christen zu den Juden gesprochen -
aus sehr naheliegenden Gründen.
Dieses Kapitel der Würzburger Synode beginnt mit einem
klaren und eindeutigen Schuldbekenntnis der Kirche.
Sie bekennt vor allem, als Kirche zu den an Juden begangenen Verbrechen 
schuldhaft geschwiegen zu haben.
Die Synode erklärt ausdrücklich die Bereitschaft,
aus dieser Schuldgeschichte unseres Landes 
und auch unserer Kirche lernen zu wollen: 
Gerade unsere deutsche Kirche muß in besonderer Weise wach sein
gegenüber allen Tendenzen, Menschenrechte abzubauen;
sie muß eindeutig an der Seite derer stehen,
die aus rassistischen oder ideologischen Gründen heute verfolgt werden.
Die Synode nennt als heute Verfolgte nicht ausdrücklich die Juden:
Damals war es schlichtweg unvorstellbar,
daß ausgerechnet bei uns in Deutschland 
so bald schon wieder Synagogen brennen würden.
Um so schlimmer für uns heutige!
Wollen wir wirklich die Würzburger Synode im Nachhinein
durch Schweigen und Kleinreden
zur verlogenen Schwätzerin machen???

Abschließend möchte ich Ihren Blick noch richten
auf ein Ereignis, das sich kürzlich vor den Toren Göttingens
im katholischen Eichsfeld zugetragen hat:
In Germershausen wurde ein Wegkreuz geschändet.
Kopf und Arme des Gekreuzigten wurden brutal abgeschlagen,
das Kreuz mit Nazi-Symbolen beschmiert.
Es kann gewiß nicht darum gehen,
dieses Vorkommnis mit den Synagogenschändungen der letzten Tage
auf eine Stufe zu stellen,
wie es sicherlich auch unangebracht wäre,
die Priester in nationalsozialistischen Konzentrationslagern
in einem Atemzug zu nennen mit den dort zu Millionen ermordeten Juden.
Und doch kann uns die Kreuzschändung in Germershausen
noch einmal aus einer anderen Perspektive klar machen,
auf welcher Seite wir als Christen ohne Wenn und Aber zu stehen haben.

Amen.