Predigt zum Reformationsfest 
am 31. Oktober 2003
Predigt im Gottesdienst zum Reformationsfest der Kreuzkirchengemeinde Göttingen.
Mit Bezügen zu den Lesungen: Ps. 46 und Mt. 5, 1-10.
Autor: P.Heribert Graab S.J.
„Wir sind im wahren Christentum. Herr, Gott, wir danken dir!"
So beginnt ein katholisches Kirchenlied,
das mir noch aus meiner Kindheit vertraut ist.
Dieses Lied war eine Art Bekenntnislied
zur katholischen Kirche und Konfession -
unterschwellig durchaus in Abgrenzung gegen andere Christen,
die wir erst heute „Schwestern und Brüder" nennen.

Im heutigen Gesangbuch der katholischen Kirche, dem „Gotteslob",
findet sich dieses Lied nicht mehr.
Ich habe es sogar schon in der Vorgängerversion des Gotteslobs
nicht mehr gefunden.

Das Lied „Ein feste Burg ist unser Gott",
das Luther in Anlehnung an den Psalm 46 dichtete,
wurde in meiner Kindheit ebenfalls
als ein konfessionelles Bekenntnislied verstanden.
Ich habe es sogar als reformatorisches Kampflied in Erinnerung.

Um so mehr habe mich über die neue Version des Psalms 46 
von meinem alten Kölner Weggefährten Uwe Seidel,
die wir soeben gehört haben, gefreut:
„Im Feuer Deines Geistes - Gott - hast Du uns zusammengeführt
und unsere Angstmauern niedergerissen;
die scharfen Messer unserer Argumente,
mit denen wir uns gegenseitig zu Leibe rückten,
Du hast sie uns aus der Hand geschlagen
und unsere Hände geöffnet zum Friedensgruß.
Darum können wir gemeinsam beten:
Ein feste Burg ist unser Gott."

Ehrlich gesagt ist mir allerdings die Lutherübersetzung
dieses ersten Psalmverses, die in der neuen Einheitsübersetzung
fast wortgleich übernommen wurde, 
wesentlich lieber:
„Gott ist unsere Zuversicht und Stärke,
eine Hilfe in großen Nöten." Beziehungsweise:
„Gott ist uns Zuflucht und Stärke,
ein bewährter Helfer in allen Nöten."

In einer mehr und mehr globalisierten Welt,
in einer europäischen Gemeinschaft, die sich in ihrer Verfassung 
nicht mehr auf Gott beziehen will,
in einer deutschen Gesellschaft, die nicht nur plural,
sondern auch weitgehend orientierungslos geworden ist,
kann es nicht angehen,
daß wir uns als Christen in einer „festen Burg" verschanzen.

Diese Welt, von der der Psalm sagt, sie sei ins Wanken geraten,
braucht unsere gemeinsame Präsenz.
Wir müssen mitten in dieser Welt
unseren gemeinsamen Glauben an Jesus Christus und sein Evangelium
glaubwürdig leben und auf dieser Grundlage
unseren Beitrag leisten zur Neugestaltung der Gesellschaft
und im Dienst an den Menschen - 
zumal an den Schwächsten Gliedern dieser Gesellschaft,
die heute ebenso wie zur Zeit Jesu keine Chance haben.

Dazu allerdings - und nicht in internen Auseinandersetzungen! - 
brauchen wir Gott als „unsere Zuversicht und Stärke".
Auf IHN allein und auf Seine bewährte Hilfe
können wir unser Vertrauen setzen,
wenn es darum geht,
auch nur die drängendsten Probleme unserer Zeit zu lösen:
• die Ungerechtigkeit der Ressourcenverteilung,
• den grassierenden Hunger in vielen Teilen dieser Erde,
• die unzähligen Kriege und blutigen Auseinandersetzungen,
• den weltweiten Terror,
• die gegen Gottes Schöpfung gerichtete Ausbeutung unseres Planten
zu Lasten zukünftiger Generationen,
• und die Herausforderungen der modernen Wissenschaften -
zum Beispiel in den aktuellen fragen der Gentechnologie.

Wenn wir - wie eben - die Seligpreisungen der Bergpredigt hören,
dann müßte uns aufschreckend deutlich werden,
wie sehr die Botschaft Jesu die gängigen Weltanschauungen,
Lebenauffassungen, Trends und Moden 
einer radikalen Kritik unterwirft,
und wie sehr wir selbst im Grunde genommen
kaum noch das Recht haben, uns Christen zu nennen,
weil wir uns weitgehend dieser Welt angepaßt haben.

Wir sollten jede einzelne dieser Seligpreisungen meditieren,
sie sogar regelrecht „durchkauen",
um den Geschmack dafür zu bekommen,
daß wir sie eigentlich nicht mögen,
und daß uns in Wirklichkeit ganz anderes „schmeckt".

Nehmen Sie nur die Seligpreisung der Armen:
Im Matthäusevangelium, das wir eben gehört haben,
zielt diese Seligpreisung auf unsere innere Gesinnung.
Die aber ist, wenn wir ehrlich sind, weitgehend geprägt
durch unser Wohlstandsdenken
und durch unser Festhalten an dem, was wir haben,
und von dem wir glauben, es auch „verdient" zu haben.
Und wenn Sie dann noch den Lukastext nehmen,
der wohl der ursprüngliche ist, dann wird‘s noch „heißer":
Da geht‘s nämlich nicht um unsere innere Einstellung,
da geht‘s vielmehr um die harte Realität von Armut.
Da müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen,
daß wir selbst nicht zu den Seliggepriesenen gehören.
Und wir müssen überlegen, 
wie wir damit umgehen können und wollen.

So sollten wir uns jede der Seligpreisungen
sozusagen auf der Zunge zergehen lassen -
und wenn sie uns noch so zuwider ist.
Wenn das jeder von uns tun würde
- jeder in allen christlichen Kirchen -
und wenn wir daraus praktische Konsequenzen
für unser persönliches Leben,
für die Gestalt unserer Kirchen
und für unser politisches Handeln ziehen würden,
dann könnte daraus eine „Reformation" erwachsen,
die die von Martin Luther bei weitem in den Schatten stellt.

Diese „Reformation" müßte - wie gesagt - 
unser gemeinsames Anliegen sein.
Und dieses Anliegen muß ganz und gar im Vordergrund stehen.
Natürlich können wir dabei unsere Geschichte nicht ausblenden.
Es ist eine leidvolle Geschichte der Trennung und sogar von Kriegen.
Es geht um nahezu 500 Jahre des Auseinanderlebens.
Das belastet die Ökumene bis auf den heutigen Tag,
und viele Menschen leiden ganz persönlich darunter
und verstehen‘s nicht mehr - wollen es vielleicht auch nicht verstehen.
Der ökumenische Kirchentag und die nachfolgenden Diskussionen
um das gemeinsame Abendmahl haben 
- neben allen ermutigenden Begegnungen - auch das gezeigt.

Nun sollten wir auf jeden Fall zwei Fehler vermeiden:

• Wir sollten uns durch das, was uns immer noch trennt,
nicht den Blick verstellen lassen für das, was uns verbindet,
und was wir nicht nur gemeinsam anpacken können,
sondern im Blick auf die Nöte dieser Welt auch müssen.
Die Punkte noch unterschiedlichen Glaubensverständnisses
sollten wir im Respekt voreinander 
und im geduldigen und hinhörenden Gespräch
zu klären versuchen.
Und vielleicht müssen wir auch manches „ertragen,
um dem Evangelium Christi kein Hindernis in den Weg zu legen" -
wie Paulus im ersten Korintherbrief sagt.
In meinen Augen ist und bleibt das,
was mit Gottes Hilfe in den letzten 60 Jahren ökumenisch bewegt wurde,
ein „Wunder" und Grund zu einer beständigen und tiefen Freude.
Lassen wir uns die nicht vermiesen!

• Ein zweiter Fehler wäre es,
wenn wir aus mangelnder Geduld
den Weg des gemeinsamen Ringens um das Evangelium verlassen würden,
um auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner einen Konsens zu konstatieren.
Wir würden uns so um die beglückende Fülle des Evangeliums bringen.
Das kann nicht der Sinn von Ökumene sein.
Vielmehr geht es jetzt darum,
aus der Reformation des 16. Jahrhunderts 
und aus den Entwicklungen beider Kirchen seit dieser Zeit zu lernen,
um so gemeinsam und mit Gottes Hilfe
die Reformation ins Werk zu setzen,
die heute nötig ist.

Noch einen letzten Gedanken möchte ich äußern:
Wenn ich das richtig sehe,
ist die evangelische Kirche in Deutschland
nicht nur durch die Reformation Luther geprägt,
sondern in nicht geringem Maße auch durch die Aufklärung.
Die katholische Kirche hat sich diesem Einfluß lange entzogen,
indem sie sich in einer Art Burg von Konservativismus verbarrikadierte.
Beide Verhaltensweisen der Aufklärung gegenüber
sind unseren Kirchen nicht nur gut bekommen.

Das entspricht der Doppelgesichtigkeit der Aufklärung selbst:
Sie war und ist auch für die Kirche die Voraussetzung dafür,
in der „Moderne" anzukommen.
Sie hat zugleich aber auch in ihrem Gefolge
die Säkularisierung und sogar den Unglauben in die Kirche hineingetragen -
und zwar inzwischen durchaus in beide Kirchen.

In der Aufarbeitung der Reformation ist die Ökumene
in der letzten Zeit erheblich vorangekommen.
Eine Aufarbeitung sowohl von Aufklärung, als auch von Konservativismus
hätte - wenn ich das richtig sehe - noch viel aufzuholen.
Aber gerade eine solche Auseinandersetzung
ist in meinen Augen dringend erforderlich,
wenn wir als die eine Kirche Jesu Christi
die säkularisierte Welt unserer Zeit 
aus dem Glauben heraus mitgestalten wollen,
anstatt uns von ihr aufsaugen zu lassen
oder uns wirkungslos aus ihr auszugrenzen.

Es gab und gibt - Gott sei Dank - immer wieder Augenblicke
im Leben eines jeden von uns,
in denen wir erahnen, was das Wort Jesu bedeutet: 
„Das Reich Gottes ist (schon) mitten unter euch."
Solche Reich-Gottes-Erfahrungen sind uns geschenkt worden
in der evangelischen Kirche,
in der katholischen Kirche, in der Ökumene,
und auch mitten im scheinbar so säkularisierten Alltag.
Wo wir uns als Kirche Jesu Christi täglich neu einlassen auf Seine Nachfolge
im Glauben an Seine verändernde und frohmachende Botschaft
- das bedeutet letztendlich „Reformation" -
dort erleben wir heute schon das Kommen Seines Reiches,
um das wir auch jetzt wieder vertrauensvoll beten.

Amen.