Predigt zum 30. Sonntag im Jahreskreis (B)
am 25. Oktober 2009
Lesung:  Jer. 31, 7 - 9
Evangelium:  Mk. 10, 46 - 52
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Natürlich geht es im Evangelium
um die Heilung eines Blinden:
Bartimäus, der vielen von uns
seit Kindertagen ans herz gewachsen ist.
    (Unzählige Kinderbibeln und Kindergottesdienste
    geben diesem Bartimäus ganz viel Raum.)

Auch in der alttestamentlichen Lesung
ist von Blinden die Rede:
Der Herr führt sie in der Mitte Seines ganzen Volk heim -
von überall her und von den Enden der Erde.

Was verbindet diese beiden Schrifttexte?
Mir scheint, das gemeinsame Thema lautet:
“Aufbruch und Neubeginn”.

1.    Die Jeremia-Lesung verkündet Gottes Verheißung:
Er werde nach dem Elend
und der Zerstreuung des babylonischen Exils
Sein Volk von überall her sammeln,
es heimführen in Seine Stadt Jerusalem
und mit diesem Volk einen neuen Aufbruch,
einen wirklichen und segensreichen Neubeginn wagen.

Die Machtpolitik der Führer des Volkes ist gescheitert.
Die politischen Bündnisse mit den Großen der Zeit
haben keine Sicherheit gebracht - ganz im Gegenteil.
Im Inneren sind
- wie so oft, wenn es um Macht und Einfluß geht -
die “kleinen Leute”, die Armen, die Behinderten,
die Mütter und Kinder
unter die Räder gekommen.

Nun nimmt Gott das Schicksal Seines Volkes
selbst in die Hand:
•    Er selbst schafft Frieden und Sicherheit.
•    Er selbst ermöglicht einen segensreichen Neuanfang.
•    Er selbst nimmt sich der Schwachen an,
    tröstet die Blinden und Lahmen,
    die Schwangeren und Wöchnerinnen,
    und all die Benachteiligten und Ausgegrenzten.
•    Er integriert sie in die Gemeinschaft des Volkes
    und läßt sie vor allen anderen teilhaben an Seinem Heil.

Ein wenig erinnert mich diese Geschichte
an den Neubeginn 1945 nach der Katastrophe
des Nazi-Terrors und des Zweiten Weltkriegs.
Auch damals erlebte unser Volk
nicht nur einen wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Wiederaufbau,
sondern mehr noch eine moralische Wende,
eine neue Solidarität aller mit allen
und auch - nach der menschenverachtenden Vernichtung
“lebensunwerten Lebens” -
eine neue Wertschätzung behinderter, ausgegrenzter
verachteter und verfolgter Menschen.

Lange hielt diese neue Solidarität leider nicht vor.
Aber immerhin haben wir immer wieder
- spätestens alle vier Jahre, wie gerade jetzt -
eine Chance, aufzubrechen aus verfestigten Strukturen
und neu zu beginnen -
wenn wir denn einen Neubeginn wagen würden
mit Gottes Hilfe!

2.    Bartimäus hingegen hat nicht die geringste Chance.
Als Blinder scheint er von Gott gestraft zu sein.
Die Gesellschaft seiner Zeit schließt ihn aus.
Das Leben geht restlos an ihm vorbei.
Er hat keinen Anteil daran.
Selbst das Recht, sich hilfesuchend an Jesus,
an den “Sohn Davids”, d.h. an den Messias,
an den Heilsbringer zu wenden,
spricht man ihm ab:
“Viele wurden ärgerlich und befahlen ihm zu schweigen.”

Er aber hat sich trotz allem noch nicht restlos aufgegeben.
Die Hoffnung stirbt zuletzt!
So macht er seinen Mund auf
- der kalt abweisenden Umgebung zum Trotz -
und schreit seine Hoffnung hinaus.
Die Nähe dieses Jesus von Nazareth
ermutigt ihn zu einer verzweifelten Eigeninitiative
und er erfährt: Wer auf Ihn seine Hoffnung setzt,
wird nicht enttäuscht:
“Ruft ihn her!”
Mit dieser Aufforderung stellt auch Jesus sich
gegen alles, was in dieser Gesellschaft üblich ist.

Aber Er geht dem Blinden keinen einzigen Schritt entgegen:
Was der selbst tun kann, soll er auch selbst tun!
Und er kann weit mehr, als die meisten denken,
mehr auch, als er sich selbst normalerweise zugetraut hätte:
“Er warf seinen Mantel weg” - seinen einzigen Schutz!
“Er sprang auf und lief auf Jesus zu.”
Und wirklich - eine Gasse tut sich auf,
und Bartimäus kommt an, obwohl er blind ist.

Aber noch einmal fordert Jesus seine Eigeninitiative heraus:
“Was soll ich dir tun?” -
eine eigentlich doch überflüssige Frage.
Als ob der sehnlichste Wunsch des Blinden
nicht auf der Hand liege!
Aber Jesus meint wohl:
Er solle als mündiger Mensch in einer Welt,
die ihn für unmündig erklärt,
selbst sagen, was ihm wichtig ist, und was er will:
“Rabbuni, ich möchte wieder sehen können.”

In diesem Augenblick wird er geheilt -
keine Berührung Jesu, keine weitere Geste,
kein heilendes Wort.
Nur: “Dein Glaube hat dir geholfen.”
Der Glaube, das restlose Vertrauen,
die auf Glauben und Vertrauen bauende Eigeninitiative!

Bartimäus kann wieder sehen -
und das nicht nur im vordergründig anatomischen Sinn!
Er sieht von diesem Augenblick an
mehr als alle Umstehenden,
mehr auch als die Jünger Jesu,
die eben nicht sehen und nicht verstehen,
was es bedeutet, Jesus nachzufolgen;
die vielmehr gerade noch um die besten Plätze
in einem total mißverstandenen “Reich Gottes”
gestritten hatten.

Bartimäus dagegen erkennt klar seine Zukunft
in der Nachfolge Jesu auf dem Weg nach Jerusalem.
Auf dem Weg nach Jerusalem,
wo sich das Schicksal Jesu erfüllen wird -
anders als es sich Seine eigenen Jünger erträumten!

Für Bartimäus wird dieser Augenblick
zum Aufbruch in ein neues Leben.
Mit sehenden Augen entscheidet er sich
für diesen radikalen Neuanfang.

3.    Wir alle miteinander sind mehr oder weniger
fest davon überzeugt: Ich sehe mit klaren Augen -
mich selbst, die anderen und diese Welt.
Was wir gar zu oft nicht merken:
Wir tragen Brillen auf der Nase -
Brillen, die unseren Blick verfälschen:
Rosarote Brillen, grau in grau getönte Brillen,
vielleicht sogar tief schwarze Brillen.
Wilhelm Willms zählt in einer Bartimäus-Predigt
ganz viele Brillen auf, die wir auf der Nase tragen:
Milieubrillen, Parteibrillen,
kirchliche Brillen - konservativer oder auch kritischer Tönung,
Brillen mit diesem Vorurteil,
Brillen mit jenem Vorurteil.

Wir alle haben es nötig,
wie Bartimäus die Initiative zu ergreifen,
das Erbarmen Jesu anzurufen
und Ihm freimütig zu sagen:
“Herr, ich möchte wieder sehen können!” -
Ohne Vorurteile sehen, einfach richtig sehen!

Amen.


Ergänzender Text als Impuls nach der Kommunion:

blindenheilung
(Wilhelm Willms)

als jesus den blinden heilte
da ist er ganz nahe an den blinden
herangegangen
und dann hat jesus ihn angeschaut
und dann hat er ihm eine brille
nach der anderen
von der nase
von den augen genommen
eine falsche brille nach der anderen
die milieubrille -
die parteibrille -
die kirchliche brille -
die brille mit diesem vorurteil -
die brille mit jenem vorurteil
und danach musste jesus
noch näher herantreten
und dem blinden
noch ein paar richtige häute
von den augen ziehen
denn manches vorurteil war schon
an den augäpfeln festgewachsen
und dann hat jesus
den mann wieder angeschaut
ganz tief bis auf den grund
und dann brach ein quell hervor
aus den augen des mannes
er weinte
das war seine rettung
seine letzte rettung
und dieser quell
der aus seinen augen hervorbrach
spülte den letzten dreck
aus seinen augen
den stolz und das nichtsehenwollen
was ja bekanntlich das sehen
am meisten behindert
und der blinde erkannte in jesus
einen menschen
einen wirklichen menschen
der sehen kann
ganz tief sehen
und vor allem auch übersehen
und einsehen
und dann konnte der blinde mann wieder sehen
als er einen menschen gesehen hatte
der sehen konnte
der ihn richtig sehen konnte