Predigt zum 17. Sonntag im Jahreskreis (C) 
am 29. Juli 2001
Meditative Predigt zum Thema "Gebet" im Blick auf die Tageslesungen: 
Gen. 18, 20-32 und Lk. 11, 1-13. 
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Vater

Wir beten fast täglich dieses Gebet,
und doch ist Gott für viele von uns der Ferne, der Unbegreifliche, der Abwesende...
Wo warst Du, Gott, damals - als mein Kind verunglückte...?
Wo bist Du, Gott, in der Nacht meiner Einsamkeit?

Für Abraham ist Gott ganz nahe,
vertraulich-kühn ringt er mit Ihm 
um die Tragfähigkeit seines eigenen Zutrauens in Gottes Gerechtigkeit:
„Das kannst Du doch nicht tun!"...

Später erfährt Mose diesen Gott Abrahams,
er erfährt Seinen Namen, Sein Wesen:
Jahwe - Ich bin der, der für euch da ist...

Und dann Jesus:
In Ihm ist Gott uns unüberbietbar nahe.
In Ihm wird Gott einer von uns,
lebt unser Leben,
geht mit uns durch unser Leid, durch unseren Tod.

Mit Jesus dürfen wir einfach „Vater" sagen.
Mit Ihm dürfen wir vorbehaltlos auf Gott vertrauen,
mehr als auf einen Freund, den wir in der Nacht um Hilfe bitten;
mehr sogar als auf einen irdischen Vater -
obwohl nicht einmal der seinem Sohn eine Schlange gibt, 
wenn er um einen Fisch bittet.

Dein Name werde geheiligt

Diese unsere Erfahrung und unsere Vorstellungskraft
unendlich übersteigende Liebe Gottes 
ist Kennzeichen Seiner Heiligkeit.
Gott ist nicht auf menschliches Maß reduzierbar.
Er ist restlos offen, weit, größer als unsere kleinen Bedürftigkeiten.
Er ist „Heil" schlechthin.
Er ist der Urquell von Gnade und Barmherzigkeit.
Seinen Namen - Jahwe - Ich bin für euch da - zu heiligen,
bedeutet, sich mit vorbehaltlosem Vertrauen 
auf diese unbegrenzte Weite der Liebe Gottes einzulassen. 

Dein Reich komme

Abraham begegnet Gott in diesem vorbehaltlosen Vertrauen.
Und das bedeutet nicht: Blindlings Ja und Amen sagen!
Es bedeutet vielmehr,
in rückhaltlosem Vertrauen auf Gottes Gerechtigkeit
eben diese Gerechtigkeit immer und immer wieder einzufordern.
- „Das kannst Du doch nicht tun!" - 
Diesem Abraham geht es nicht in erster Linie darum,
von dieser Stadt Sodom die Vernichtung abzuwenden.
Vielmehr klagt er Gottes Gerechtigkeit ein:
Es kann und darf nicht sein,
daß die Guten mit den Bösen zugrunde gehen.
In der Sprache Jesu ausgedrückt,
ringt Abraham mit Gott um das Kommen Seines Reiches,
des Reiches der Gerechtigkeit, der Liebe und der Barmherzigkeit.

Wann und in welchen Situationen ist unser Beten
schon mal ein solches Ringen um Gerechtigkeit?
Wann ist unser Beten überhaupt ein wirkliches Ringen?
Wann weitet sich unser Blick im Gebet
schon mal über den kleinen Kirchturmhorizont 
unseres Krämerdenkens hinaus?
Wann geht es uns schon mal
um das Offenbarwerden von Gottes Gerechtigkeit?
Darum, daß Sein Wille geschehe?
Darum, daß Sein Reich komme?
Wer von uns hat die Balkankriege 
mit dem drängenden Gebet des Abraham begleitet:
„Das kannst Du doch nicht Tun!"
Wer von uns hat Globalisierungsprozeß und den Genua-Gipfel 
- um Gottes Gerechtigkeit willen -
mit diesem protestierenden Gebet begleitet?
Und das im Glauben daran,
daß Gottes Reich und Seine Gerechtigkeit
in Jesus von Nazaret schon Hand und Fuß bekommen hat;
daß in Jesu Tod und Auferstehung
der Name Gottes „Ich bin für euch da"
selbst zum Protest gegen Leid, Ungerechtigkeit und Tod geworden ist. 

Dies ist die eigentliche Dimension des Gebetes
nach dem „Vater unser" Jesu,
nach der Gebetsschule des Lukasevangeliums.
In diese umfassende Dimension eingespannt
und ihr untergeordnet
sind dann die Bitten um Gottes begleitende Sorge
auf unserem Weg durch die Zeit: 
indem Er unseren Hunger stillt,
indem Er uns unsere Sünden vergibt,
indem Er uns vor Versuchung schützt.

Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen

- nicht mehr und nicht weniger.
Unsere erste Sorge soll Dein Reich sein, Deine Gerechtigkeit.
Die soll uns so erfüllen, 
daß wir gar keine Zeit haben,
an unsere eigenen Pläne, unser Fortkommen
und unseren Wohlstand zu denken.
Diese Bitte soll uns davor bewahren,
daß das Wort von Gottes Reich und Seiner Gerechtigkeit
in uns erstickt werde 
durch „die Sorgen dieser Welt",
aber auch durch den „trügerischen Reichtum".
Diese Bitte soll uns davor bewahren,
daß „im Namen von 400 verschiedenen Brotsorten
in den Ländern der Ersten Welt
in den Ländern der Dritten Welt
Urwälder gerodet
und Ackerböden verwüstet werden,
bis es keine Orte mehr gibt
für die Reisfelder der Hungernden
und für die Hirsepflanzungen der Verhungernden." (Eugen Drewermann)

Wenn uns solche Zusammenhänge bewußt werden,
wird uns vielleicht auch einsichtig,
wie sehr wir - über die Brotbitte hinaus -
auf unserem Weg durch die Zeit
der Bitte um Vergebung bedürfen: 

Und erlaß uns unsere Sünden;
denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist.

So sehr wir Gottes Gerechtigkeit einklagen -
wir selbst bedürfen vor allem Seiner Barmherzigkeit,
Seiner Vergebung.
Vergib uns unsere Entschuldigungen mehr noch als unsere Schuld.
Vergib uns, daß wir immer wieder Verantwortung abwälzen auf andere:
„Was kann ich schon ausrichten?"
„Da kann man doch sowieso nichts ändern!"

Vergib uns unsere Lüge,
die uns selbst bis in dieses Gebet hinein gefangen hält:
Denn wann vergeben wir selbst schon ohne Vorbehalt?
Und mit wie vielen Bedenken
und mit welcher Zögerlichkeit
war und ist uns das große Erlaßjahr ein wirkliches Anliegen!

Vergib uns! Du bist ja unser Vater!
Und lehre uns,
uns selber zu vergeben. 

Und führe uns nicht in Versuchung

Gerade weil Dein Reich
inmitten unserer armseligen Geschichte anbrechen soll,
droht uns immer wieder die Versuchung.
Die Versuchung des Kleinglaubens,
die Versuchung der Resignation und der Gleichgültigkeit,
die Versuchung, aufzugeben
und die Menschen für unverbesserlich,
die Welt für unveränderbar
und die jetzigen Zustände für eigentlich ganz gut zu halten.
Die Versuchung, an Deiner Kirche zu verzweifeln
und Dir selbst und Deiner Verheißung nicht mehr zu trauen.

Hilf uns, diesen Versuchungen nicht zu erliegen.
Hilf uns, nicht nachzulassen im Gebet - wie Abraham.
Reiß uns heraus aus der tödlichen Macht des Bösen.

Denn Dein ist das Reich und die Kraft 
und die Herrlichkeit in Ewigkeit.

Amen.