Predigt zum 3. Sonntag im Jahreskreis (C),
am 21. Januar 2001

Texte: Neh. 8, 2-4a. 5-6. 8-10; Lk. 1, 1-4; 4, 14-21; 
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Eine merkwürdige Lesung aus dem Buch Nehemia haben wir gehört:
Wer von uns würde sich schon in unserer Kirche drängen,
wenn dort vom frühen Morgen bis zum Mittag
aus der Heiligen Schrift vorgelesen würde
und der Pfarrer - oder auch der Bischof - diese Lesung 
durch eigene Erklärungen ergänzte?!
Und erst recht unvorstellbar wäre für uns,
daß bei einer solchen Gelegenheit die ganze Versammlung
zu Tränen gerührt ist.

Was ist der Hintergrund eines so unvorstellbaren Geschehens
damals zur Zeit des Priesters Esra und der Statthalters Nehemia?
Durch Gottes Fügung ist die schreckliche Zeit 
des Babylonischen Exils zu Ende gegangen.
Israel kann die Stadt Jerusalem und ihre Mauern wieder aufbauen.
Nehemia ist dafür verantwortlich.
Aber mit dem äußeren Wiederaufbau ist es nicht getan.
Diejenigen unter uns, die den Neubeginn nach 1945 miterlebt haben,
können ein Lied davon singen:
Wichtiger noch ist der innere Wiederaufbau 
eines funktionierenden Gemeinwesens.

Für Israel liegt die Meßlatte dafür sehr hoch.
Sie orientiert sich an dem Ideal der zukünftigen Gottesherrschaft.
Und dieses Ideal umfaßt die für uns weitgehend getrennten
Bereiche von Glauben und Politik als eine unauflösliche Einheit.
Damals schon geht es - wie später in der Botschaft Jesu Christi -
um das Kommen des „Reiches Gottes".
Da ging und geht es zwar um Gottes verheißene Zukunft;
aber diese Zukunft ist bereits angebrochen,
und diese Zukunft gibt schon jetzt Orientierungen
für die konkrete Ausgestaltung auch des politischen Gemeinwesens.

Das Jesajazitat Jesu im heutigen Evangelium
weist in die gleiche Richtung:
„Der Herr hat mich gesandt,
damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe;
damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde
(Gemeint ist die Freilassung der Sklaven)
und den Blinden das Augenlicht;
damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze
und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe."
Auch hier geht es um die Vision des Reiches Gottes
mit allen politischen Implikationen.
Und Jesus fügt hinzu:
„Heute hat sich das Schriftwort, 
das ihr eben gehört habt, erfüllt!"
Konkret:
Das Gottesreich ist angebrochen
und setzt ab sofort die Maßstäbe für euer (politisches) Handeln.

Für unsere Väter und Mütter der Wiederaufbaugeneration von 1945
war das auch selbstverständlich:
Gerade engagierte Christen beider Konfessionen
haben damals ihre an der Heiligen Schrift orientierten Vorstellungen
in die soziale und politische Konzeption 
der sozusagen aus dem Nichts entstehenden Bundesrepublik eingebracht.

Auf diesem Erfahrungshintergrund ist die emotionale Betroffenheit
der Menschen damals beim Wiederaufbau 
nach dem Babylonischen Exil durchaus nachvollziehbar.
Die Tränen waren Ausdruck der Trauer und der Reue 
über das eigene Versagen in der Vergangenheit,
zumal über die Abkehr von Gott und deren katastrophale Folgen.
Mit dieser Reue und Trauer jedoch ging zugleich
die Freude über die von Gott geschenkte Chance des Neuanfangs einher.

Wir befinden uns heute in einer anderen Situation:
Die Zeit des Neuanfangs ist Geschichte
und auch die „Wende" wurde de facto nicht 
als eine erneute Chance zur Umkehr begriffen -
jedenfalls nicht bei uns im Westen.
Visionen des Gottesreiches spielen in unserer Politik keine Rolle mehr.
Immer häufiger stellt sich die Frage,
inwieweit überhaupt noch der Mensch
im Mittelpunkt der Politik steht.
In den Visionen vom Gottesreich
ist seine Würde darin begründet,
daß er von Gott als Sein Ebenbild geschaffen 
und durch Jesus Christus erlöst ist.
Säkulare Begründungen der Menschenwürde
scheinen immer häufiger zu versagen.

Unsere Ausländerpolitik und erst recht unsere Abschiebepraxis
orientiert sich an anderen Kriterien als an dem der Menschenwürde.
Unsere Familienpolitik läßt es zu,
daß immer mehr Kinder unter die Armutsgrenze rutschen.
Unsere Außenpolitik führt das Wort von den Menschenrechten zwar ständig im Munde,
trifft Entscheidungen jedoch vor allem aufgrund politischer Nützlichkeitserwägungen.

Oder nehmen Sie die aktuellen Themen nur dieser Woche:

- Uranhaltige Munition - im Golfkrieg „bewährt" und auf dem Balkan wieder eingesetzt.
In Basra sterben heute noch täglich Menschen an Krebs. 
Auf dem Balkan eingesetzte Soldaten wurden ebenfalls krank.
Die Reaktionen der Politik immer gleich:
Ein Zusammenhang ist wissenschaftlich nicht nachgewiesen.
Die Wahrheit kommt scheibchenweise ans Tageslicht.
Von Wiedergutmachung für die betroffenen Menschen kann keine Rede sein.

- Die gleichen Reaktionen auf das Bekanntwerden
eines eklatanten Krebsrisikos für Soldaten im Radardienst.

- Ähnliche Reaktionen auf die seit Jahren bekannte BSE-Problematik:
Priorität der Wirtschaft,
wissenschaftlich ist nichts bewiesen,
Beruhigung der Bevölkerung,
politische Aktivitäten nur unter dem Druck der Öffentlichkeit. 

Vielleicht wäre es auch heute an der Zeit,
die gesamte Bevölkerung von Göttingen,
„soweit sie das Gesetz verstehen kann",
in der Lokhalle zusammenzurufen,
und die Heilige Schrift mit aktuellen Erklärungen vorzulesen.
Ähnlich überall in unseren Landen.
Ob sie wohl in Tränen ausbrechen würde wie damals in Jerusalem?
Mit einiger Sicherheit sitzen wir dazu noch nicht tief genug im Dreck.

Amen.