Predigt zum Fest Allerheiligen 2001
Predigt von Pastorin Ulrike Fuchs (ev. Kreuzkirchengemeinde) in St.Michael 
zur Lesung 1. Joh. 3, 1-3.
Liebe Gemeinde!

I. Eigentlich bin ich ganz anders. 
Aber ich komme so selten dazu.
Diesen augenzwinkernden Seufzer fand ich auf einer Postkarte. 
Wer dächte bei diesen Worten nicht augenblicklich an sich selbst. 
Ja, genauso ist das. Was bleibt von uns übrig ? 
Von unseren ursprünglichen Neigungen und Begabungen, 
in der Tretmühle des Alltags?
Ganz zu schweigen von Charaktereigenschaften, 
die zu unterdrücken wir im Laufe unserer Erziehung gelernt haben. 
Wo ist Platz für unseren Spieltrieb oder gar Albernheit? 
Verkümmert nicht im Laufe des Erwachsenenlebens oft Neugier und Witz? 
Träumerische, weiche Seiten gehören nicht 
zu den Anforderungen des Berufslebens.
Eigentlich schreibe ich gerne Briefe. 
Aber ich komme so selten dazu. 
Ähnlich verhält es sich mit der Pflege 
von Freundschaften und Kontakten,
Dinge, die sogar Spaß machen,
zu denen ich aber manchmal einfach zu müde bin. Oder zu faul. 
Manche von unseren im Alltag verschütteten Plänen und Neigungen 
finden wenigstens noch im Urlaub Raum, 
wenn der Druck von uns abfällt. 
Viele Menschen sind dann ganz anders als sonst. Wie ausgewechselt. 
Verändere die äußere Situation und die Person verändert sich.

Mancher kommt nach Beendigung seines Berufslebens 
noch mal ganz neu zum Vorschein. 
Ich denke an einen Mann, 
der von seinen Eltern in einen ungeliebten Beruf gezwungen wurde. 
Erst nach der Pensionierung tat er, was er immer schon wollte. 
Er begann zu studieren. 
Und verwandelte sich für seine Familie in einen umgänglichen Menschen. 
Unzufriedenheit und Gereiztheit fielen von ihm ab. 
Und ich kenne andere Menschen,
die sich nach dem Tod ihres Ehepartners 
noch einmal völlig verändert haben. 
Auch da kam, durch äußere Veränderungen veranlaßt, 
geradezu eine ganz neue Person zum Vorschein. 
Eine Frau, deren Mann zwar sehr klug, 
aber leider auch sehr bestimmend war, 
blühte nach dessen Tod richtig auf. 
Sie genoß es, daß Menschen ihr zuhörten. 
Schloß sich sogar einer Theatergruppe an. 
Ein anderer Witwer begann im zarten Alter von 80 Jahren 
noch mit Formationstanz, 
entwickelte Energie und Lebensfreude,
die man ihm gar nicht zugetraut hatte.
"Es ist noch nicht offenbar, was wir sein werden..."

II. Denn genau um das, was wir in Wirklichkeit sind, 
was in unserer Wirklichkeit aber oft noch verborgen bleibt, 
geht es auch in unserem heutigen Predigttext aus dem l. Johannesbrief:
„Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder, 
es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden."

Eine geistliche Variante unserer Postkarte vom Anfang ist das. 
Und heute am Allerheiligenfest hätte ich Lust, 
einen entsprechenden Postkartentext für Christen zu entwerfen:
Eigentlich sind wir Heilige, aber wir kommen so selten dazu.

Darin enthalten ist ja beides.
Das Wissen, daß wir eigentlich anders sind: 
Menschen, die zu Gott gehören, 
denen seine Zusage und Treue gilt. 
Eine starke Zugehörigkeit, 
die nicht wir selbst uns ausgesucht oder erarbeitet haben. 
Von Gott in der Taufe geschenkt ist uns das. 
Ja, wir sind Kinder Gottes. Wirklich! 
Daneben aber auch der kritische Realismus, 
daß wir - um mit der Postkarte zu sprechen - 
"leider so selten dazu kommen". 
Wir leben nicht entsprechend unserer Identiät.

III. Was uns daran hindert, liegt klar auf der Hand:
Äußere Zwänge und innere Trägheit. 
Konsequenz - auch im Glauben - hat immer einen hohen Preis. 
Wer konsequent lebt und handelt, 
wird einerseits heimlich bewundert, 
eckt aber dementsprechend an, erlebt Widerstand. 
Schon Kinder lernen rasch,
mit welchen Verhaltensweisen man sich beliebt oder unbeliebt macht. 
Gruppenzwang und der Wunsch nach Anerkennung. 
Es sind immer innere und äußere Gründe, 
die uns zur Anpassung verleiten. 
Im schlimmsten Falle sogar vergessen lassen, wer wir eigentlich sind.

Trauen wir uns in der Öffentlichkeit zu beten? S
tehen wir in Konflikten zu unseren Christen Werten? 
Oder tauchen wir ab? 
Verkramen Glauben in der privaten Schublade?
Offenbar zu werden, sichtbar zu sein, erfordert Mut. 
Gottes Kind zu sein, seinen Geboten und Regeln zu folgen, 
ist in der heutigen Zeit kein Zuckerschlecken. 
Aber vermutlich war es das nie. 
Schon immer galten in der Welt andere Maßstäbe und Spielregeln.

IV. Eigentlich sind wir Heilige, aber wir kommen so selten dazu. 
Die Konsequenz jener Selbsterkenntnis 
beschreibt der letzte Satz unseres Predigttextes.
Dort heißt es: "Und ein jeder, der solche Hoffnung auf ihn hat, 
der reinigt sich, wie auch jener rein ist."

Selbsterkenntnis und selbstkritische Reflektion, 
was uns am Eigentlichen hindert, 
hat immer Entrümpeln zur Folge.
Nicht zuletzt gilt das "Lassen- können"
als eine der wichtigsten geistlichen Tugenden. 

Unser mit Nebensächlichkeiten vollgemülltes Leben zu reinigen, 
Platz und Zeit zu schaffen für die wesentlichen Dinge, 
ist eine Lebensaufgabe. 
Immer wieder notwendig, 
weil eben auch die andere Mechanismen nicht ruhen, 
uns zurückwerfen. 
Da nicht müde zu werden, 
gelingt nur im Vertrauen darauf, daß Gott uns unterstützt. 
Daß auch er nicht aufhört, 
unsere Eigentliches zu Vorschein zu bringen. 
Unser Heilwerden will.

Mit einer Postkarte habe ich begonnen 
und mit einer Postkarte höre ich auf.: 
Wir sind Heilige. Nicht immer. Aber mit Gottes Hilfe immer öfter. 

Amen.