Predigt zum 33. Sonntag im Jahreskreis (C)
am 14. November 2004
Evangelium: Lk. 21, 5 - 19
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Wie in jedem Jahr, das zur Neige geht,
werden wir auch heute wieder
mit apokalyptischen, d.h. mit endzeitlichen Texten konfrontiert.
Schon oft habe ich versucht,
diese Texte zu deuten.

Mir ist wichtig, zwei Kernpunkte einer solchen Deutung
in Erinnerung zu rufen:

•    Es geht auch im heutigen Evangelium
    nicht um Weissagungen der Zukunft
    und schon gar nicht um eine magische Kaffeesatzleserei!

•    Es geht des weiteren nicht darum,
    mit den geschilderten Schreckensszenarien
    den Hörerinnen und Hörern des Evangeliums Angst einzujagen.
    Das Evangelium ist und bleibt
    auch in seinen apokalyptischen Passagen frohmachende Botschaft! 

Das Evangelium schwebt jedoch - wie übrigens die Hl.Schrift insgesamt -
nicht „auf Wolke sieben",
sondern hat einen nüchternen Blick für die Realität.
Der Hintergrund für diesen dunklen Lukastext
ist die Zerstörung Jerusalems und seines Tempels im Jahre 70.
Dieses Ereignis haben Juden wie Christen der damaligen Zeit
als die Katastrophe schlechthin erlebt.

Und Lukas setzt diese Katastrophe in Beziehung
zu all den erschreckenden Geschehnissen seiner Zeit
und aller Zeiten der alten und vergehenden Welt.
So liest sich seine Liste von Katastrophen
wie die komprimierte Aneinanderreihung aktueller Schlagzeilen:

•    Die Volksverführer und Demagogen seiner Zeit -
    das sind heute vor allem die Fundamentalisten unterschiedlichster Couleur:
    Nicht nur jene Terroristen, die den Islam für sich mißbrauchen.
    Fundamentalisten mißbrauchen auch den Namen Jesu:
    Sie beanspruchen für sich allein, Seine wahre Botschaft zu verkünden;
    sie führen gläubige Christen in die Irre
    und verängstigen fromme Menschen -
    bis hinein in unsere Gemeinde!

•    Kriege und Unruhen jagten den Menschen damals Schrecken ein.
    Kriege und Unruhen treiben auch heute Unschuldige
    hekatombenweise in Tod und Elend.

•    Erdbeben, Seuchen, Hungersnöte -
    damals sah man in all dem blindes Schicksal
    oder auch Strafe Gottes.
    Heute wissen wir: Das meiste davon ist letztlich von Menschen verursacht.
    „Der Mensch ist des Menschen Wolf!"

•    Damals zeichneten sich die ersten Christenverfolgungen ab.
    Und der fürchterliche Tod Jesu am Kreuz
    stand den Verfolgten eindringlich vor Augen.
    Heute in unseren „modernen" Zeiten
    ist die Folter raffinierter, aber nicht weniger grausam.
    Und erschreckend viele Christen erleiden auch heute Folter und Tod
    um ihres Glaubens willen.

Das Evangelium bleibt nicht dabei stehen,
solche Schreckensszenarien zu schildern.
Die Zerstörung Jerusalems war für die jungen Christen
gewiß zunächst eine Katastrophe.
Für die Menschheit war sie im Blick zurück
aber auch ein Segen:
Durch die Zerstörung Jerusalems
wurden die ersten Christen regelrecht gezwungen,
hinauszugehen in alle Welt mit der Botschaft:
Jesus Christus hat uns durch Leiden und Tod
einen Platz im Himmel erworben.
Er hat in Seiner Auferstehung
das Tor zum himmlischen Jerusalem geöffnet.

Das Evangelium mahnt uns, standhaft zu sein im Glauben -
auch wenn uns Katastrophen heimsuchen.
Mit dieser Standhaftigkeit im Glauben
verknüpft das Evangelium die Verheißung der Fülle des Lebens.
Das heißt zujm Beispiel:
Jede Katastrophe kann auch zur Chance werden für uns -
und das schon hier.
Das gilt für die politischen Katastrophen so gut
wie für die Katastrophen unseres privaten Lebens:

•    Die Katastrophe des Zusammenbruchs im Jahre 1945
    barg in sich die Chance, eine neue demokratische
    und von der Achtung der Menschenwürde geprägte
    Gesellschaft aufzubauen.

•    Der Tod Arafats, der vom palästinensischen Volk
    für‘s erste als eine Katastrophe gesehen wird,
    birgt in sich die Chance, endlich einen Neuanfang zu machen
    auf dem Weg zum Frieden.

•    Aber auch in der privaten Katastrophe,
    die der Tod eines lieben Menschen mit sich bringt
    oder im Zerbrechen einer Ehe und Familie,
    gilt es jeweils die Chance zu entdecken,
    die neues Leben möglich macht.

Das Evangelium wendet unseren Blick nach vorne
in eine von Gott geschenkte Zukunft.
Gott möge uns allen helfen,
durch die Trümmerhaufen unseres Lebens nicht zu verbittern,
sondern in Glaube, Hoffnung und Liebe zu reifen.

Wenn wir den Text des heutigen Evangeliums nicht isoliert betrachten,
fällt uns auch auf,
daß eben dieses Evangelium Jesu Christi
nicht nur im Blick auf die Schrecken des Augenblicks
realistisch ist.
Vielmehr skizziert das Evangelium auf dem Boden eben dieses Realismus
die schon angebrochene Zukunft der Herrschaft Gottes.

Jesus will nicht nur Johannes dem Täufer
sondern uns allen die Augen öffnen für diese neue Realität,
wenn er die Boten des Johannes ausrichten läßt:
„Geht und berichtet Johannes, was ihr hört und seht:
Blinde sehen wieder, und Lahme gehen;
Aussätzige werden rein, und Taube hören;
Tote stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet.
Selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt." (Mt. 11, 4-6).

Seien wir also nicht nur Realisten
in der Betrachtung der vergehenden Welt!
Seien wir vielmehr in wenigstens gleicher Weise
realitätsbezogen im gläubigen Blick
auf die Verheißungen Gottes durch Jesus Christus!
Sie sind jetzt schon mit Händen zu greifen!
Selig, wer keinen Anstoß nimmt an Jesus Christus, unserem Herrn.

Amen.