Predigt zum 3. Sonntag im Jahreskreis (C) am 25. Januar 2004
Zur Lesung: 1.Kor. 12, 12-31a
Der Bezug zur römischen Fabel nach Bernhard Krautter in "Gottes Volk".
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Der Apostel Paulus war nicht nur in zwei Sprachen,
sondern auch in zwei Kulturen groß geworden.
Selbstverständlich war er in der jüdischen Tradition
seiner Vorfahren gebildet.
Ebenso sehr jedoch war er zu Hause
in der Bildung der römischen Weltmacht seiner Zeit.

Aus der römischen Geschichte stammte das Bild 
vom Organismus, das uns heute in der Lesung begegnet:

Dem liegt eine Episode aus der altrömischen Geschichte zugrunde.
Zu Anfang des 5. Jahrhunderts vor Christus
gab es in Rom eine gesellschaftliche Spaltung zwischen Arm und Reich,
wie es sie immer wieder in der Geschichte 
ganz unterschiedlicher Gesellschaften gibt.
Damals hatten in Rom die Patrizier - vornehme Leute - die Macht
und teilten den Reichtum der Stadt unter sich auf.
Die einfachen Leute, die Plebejer, hatten das Nachsehen
und litten unter ihrer drückenden Armut,
obwohl sie doch eigentlich den ganzen Reichtum
mit ihrer Hände Arbeit geschaffen hatten.

In dieser zugespitzten Situation beschlossen die Plebejer -
wir würden heute sagen - einen „Generalstreik".
Sie zogen einfach aus der Stadt Rom hinaus
zu einer großen Kundgebung auf dem Aventin.
Ihr Slogan lautete einfach und klar:
Wir erarbeiten - modern gesprochen - das Bruttosozialprodukt,
und die Patrizier verprassen es.

In dieser Situation schickte die Partei der Patrizier
einen Unterhändler hinaus auf den Aventin,
und der erzählte der versammelten Menge eine Fabel:

Eines Tages rebellierten die Glieder des Leibes gegen den Magen.
Sie sagten: 
Alles was wir mit Mühe und Anstrengung erarbeiten,
das verbraucht schließlich der Magen.
Also beschlossen sie, dem Magen von nun an 
nichts mehr an Speise und Trank zuzuführen. 
Aber bald merkten die Glieder des Leibes,
daß sie selber schwach und schwächer wurden.
So weit die Fabel.
Selbstverständlich erklärte der Patrizier seinen Zuhörern 
im Einzelnen, daß der Magen die Speisen 
keineswegs nur für sich verbrauche,
daß er sie vielmehr nur aufschließe und umwandele
zum Nutzen aller Glieder des Leibes.
Und er vergaß natürlich nicht,
daraus die Schlußfolgerung zu ziehen
im Blick auf die Rollenverteilung zwischen Patriziern und Plebejern
in der römischen Stadtgesellschaft.
Er hatte damit Erfolg:
Die Plebejer zogen in die Stadt zurück und gingen wieder an die Arbeit.
Der soziale Friede war wieder hergestellt.

Das Bild vom Leib diente also damals 
der Beschwichtigung der kleinen Leute.
Ganz anders bei Paulus:
Auch ihm ging es um den Frieden 
in der jungen und sehr heterogenen christlichen Gemeinde
der multikulturellen Hafenstadt Korinth.
Paulus beschwichtigt jedoch nicht im Sinne einer herrschenden Oberschicht.
Im Gegenteil:
Er relativiert die Bedeutung derer, 
die glauben, das Sagen zu haben,
indem er gerade die scheinbar niedrigsten Dienste in der Gemeinde hervorhebt
und sie für den Aufbau der Gemeinde als unverzichtbar erklärt.
Ihm geht es darum, gerade diejenigen,
die diese Dienste versehen, aufzuwerten,
und dafür Sorge zu tragen,
daß sie in der Gemeinde zu Korinth angemessen geachtet werden.

Wenn ich heute dieses Gleichnis vom Leib und seinen Gliedern
im Verständnis des Paulus lese,
dann erfüllt mich das zunächst mit großer Dankbarkeit.
Ich habe dann unsere Gemeinde St.Michael vor Augen
und die fast unzähligen Menschen,
von deren Dienst diese Gemeinde lebt.
Es gab einmal Zeiten,
da war der Pfarrer in einer Gemeinde
fast so etwas wie ein Alleinunterhalter;
jedenfalls hatte er allein das Sagen.
Diese Zeiten kehren hoffentlich nie wieder!
In St.Michael z.B. ist heute der „Küster"
in Wirklichkeit „technischer Leiter" des ganzen Areals
mit eigenständiger Verantwortung...
Die „Pfarrsekretärin" ist praktisch die Verwaltunsleiterin -
ebenfalls weitgehend eigenverantwortlich.
Die „Gemeindereferentin" ist für den gesamten Bereich
der Kinder- und teilweise auch der Erwachsenenkatechese verantwortlich.
Ähnlich gilt Eigenverantantwortung für andere Bereiche.

Auch die vielen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
übernehmen in der Reöögel nicht nur Aufgaben, sondern auch Verantwortung -
letztlich für den Aufbau der Gemeinde.
Und selbst die „geringsten" Dienste in der Gemeinde sind 
- selbst wenn sie kaum jemandem bewußt auffallen -
unverzichtbar für Aufbau und Leben der Gemeinde.
Nur ein Beispiel:
Woche für Woche übernimmt es ein Mitglied unserer Gemeinde,
für alle den Pfarrbrief zusammenzulegen -
immerhin etwa 700 Exemplare.

Obwohl Paulus das Bild vom Organismus 
auf eine konkrete Gemeinde vor Ort bezieht,
erscheint es mir dennoch legitim,
dieses Bild auch auf die Kirche als Ganze zu beziehen.
Gerade in dem überwältigend großen und komplizierten 
Organismus der Weltkirche von heute
scheint es mir wichtig zu sein,
daß sich nicht einzelne - zweifelsohne notwendige - Dienste
über die anderen erheben
und diese anderen als „hörende Kirche" auf reine Passivität reduzieren.

Im Sinne des Paulus ist auch der Dienst der Leitung ein Dienst.
Da geht es also nicht um Herrschaft, Diktat und Herumkommandieren.
Vielmehr ist es Aufgabe von Leitung,
all die vielen anderen Dienste, die - wie die Leitung selbst - 
zum Aufbau der Kirche Unverzichtbares beitragen,
zu motivieren, zu koordinieren und zu organisieren.
Paulus würde uns wahrscheinlich heute 
an das Zweite Vatikanische Konzil erinnern
und an sein Verständnis von Kirche als Volk Gottes,
das gemeinsam auf dem Wege ist.
Er würde vermutlich auch den längst nicht überwundenen Klerikalismus
kritisch in den Blick nehmen 
und die Machtausübung kirchlicher Zentralen geißeln -
unabhängig davon, ob in ihnen Kleriker oder auch Laien die Fäden ziehen.

Erlauben Sie mir einen aktuellen Blick auf die Kirche von Hildesheim.
Deren Situation ist augenblicklich geprägt
durch die unabweisbare Notwendigkeit, rigoros zu sparen.
Daran geht kein Weg vorbei.
Und es geht auch kein Weg daran vorbei,
im Personalbereich erhebliche Einsparungen vornehmen.
Wie anderswo ist auch in der Kirche
dieser Bereich besonders kostenintensiv.

Nun liegt die Versuchung nahe,
diese Probleme in der Kirche
mit genau den gleichen Mitteln zu lösen,
mit denen wirtschaftliche Unternehmen sie Tag für Tag lösen:
mit Einstellungsstop, mit Kürzung der Bezüge,
mit Verlängerung der Arbeitszeit,
notfalls auch mit betriebsbedingten Kündigungen.

Mit solche Methoden jedoch würde sich die Kirche
auf eine Stufe stellen mit „dieser Welt",
obwohl Jesus uns doch ausdrücklich sagt,
daß wir als Kirche zwar „in" dieser Welt leben müssen,
aber doch auf keinen Fall „von" dieser Welt sein dürften.
 

Auf dem Hintergrund der ersten einschneidenden Maßnahmen
der Bistumsleitung in Hildesheim
gewinnt für mich ein zentraler Satz der heutigen Lesung
herausragende Bedeutung:
„Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit."

Im Licht dieses Satzes und der ganzen Lesung überhaupt
erscheint mir z.B. die Entscheidung höchst problematisch,
Gemeinde- und Pastoralreferentinnen und -referenten,
die sich noch in der Ausbildung befinden,
nicht mehr in den kirchlichen Dienst zu übernehmen.
• Die haben zum Teil etliche Jahre ihres Lebens
in diese Ausbildung investiert.
Das soll jetzt alles vergeblich sein?!
• Die haben sich entschieden für eine innerkirchliche Ausbildung
und haben auf dem freien Arbeitsmarkt kaum eine Chance.
• Die sind einer inneren „Berufung", die die Kirche akzeptiert hat,
indem sie sie zur Ausbildung zuließ.
Die Kirche betet sogar ständig um „geistliche Berufe".
Das alles paßt partout nicht zusammen!

Natürlich können sie ihre Fähigkeiten ehrenamtlich einbringen.
Wer sich aber für einen beruflichen Weg in der Kirche entschieden hat,
muß ja wohl auch von irgendetwas leben!
„Du sollst dem dreschenden Ochsen nicht das Maul verbinden,"
heißt es in der Bibel.
Und Paulus sagt im Blick auf die Dienste in der Kirche:
„Wer arbeitet, hat ein Recht auf seinen Lohn!"

Und jetzt noch einmal:
„Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit."
Wenn wir uns der Liebe Jesu Christi verpflichtet fühlen
und uns alle miteinander verstehen als Glieder an Seinem Leib,
dann kann es in der konkreten Situation 
nicht nur um ein emotionales Mitleid gehen -
dann ist vielmehr kreatives Mitleiden gefragt;
ein phantasievolles Handeln, 
das alternativ ist zu dem,
was in dieser Welt und in der Wirtschaft praktiziert wird.

Das geht auch uns etwas an!
Denn wir alle sind Kirche, sind Glieder an dem einen Leib.
Erinnern Sie sich an das Evangelium des letzten Sonntags
von der Hochzeit zu Kana:
Sie hatten keinen Wein mehr.
Maria mischt sich ein - aktives Mitleid.
Anstatt zu sagen: Als Gast geht mich das nichts an,
weiß sie sich „zuständig".
Wir alle müßten uns fragen:
Was heißt das für mich, „zuständig" zu sein?

Amen.