Predigt zum 100. Geburtstag
von Alfred Delp am 15.9.1917

Gehalten am Sonntag, dem 16.9.2007
in St. Michael, Göttingen
Lesung: Exodus 31, 7 – 11. 13-14
Autor: Pfr. i.R. Dr. Günter Ebbrecht
Eine längere Fassung mit ausführlicheren Zitaten von Alfred Delp und Quellenangaben finden Sie hier als doc-Datei zum Herunterladen.
Liebe Gemeinde,

es gibt Ereignisse in der Geschichte, die Geschichte machen. Sie werden erinnert und erzählt, weil sie eine epochale Wende bedeuten. Unsere Zeitrechnung datiert: vor und nach Christi Geburt. Europa ist nicht zu denken ohne den Einschnitt der Französischen Revolution mit der Erklärung der Menschenrechte. Wir haben Tränen der Freude in den Augen, wenn wir an die Öffnung der Berliner Mauer in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 denken. Auch der 20. Juli, das geschei¬terte At¬tentat auf den Diktator Hitler gehört zu diesen Ereignissen. Mit ihm die Erinne¬rung an alle, die Widerstand gegen das barbarische Regime geleistet haben. Unter ihnen Helmuth James von Moltke und Alfred Delp, deren 100. Geburtstag wir in die¬sem Jahr erinnern. Es gibt Ereignisse in der Geschichte, die erinnert werden müs¬sen, weil sie Hoffnungszeichen der Humanität sind.

Es gibt aber auch Ereignisse in unserer Geschichte, die unvergesslich bleiben müs¬sen, weil sie Zeichen der Menschenverachtung sind. Bei uns in Deutschland zählen zu diesen Zeichen der Men¬schenverachtung die Folgen des Massen¬¬rausches der Machtergreifung Hitlers und der NSDAP 1933. Uns und aller Welt zur Mahnung ge¬denken wir des Massenmordes der Juden in den Konzentrationslagern. Die unschul¬dig – schuldigen Opfer der Zivilbevölkerung im zweiten Weltkrieg wie die gefallenen Soldaten auf allen Seiten wollen wir nicht vergessen.

Es gibt Ereignisse in der Geschichte, die Geschichte schreiben. Sie zu erinnern und zu erzählen ist unsere Pflicht und Verantwortung. Genauso erging es dem Volk Is¬rael, dass nicht erst seit der Shoa weiß: ‚Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinne¬rung‘. Wir haben davon in der Lesung gehört. Einst lebte das Volk als Sklave in Ägypten. Es stöhnte unter der Last entfremdeter Arbeit und unterdrückter Freiheit.

Mose erhielt den Auftrag, das Volk aus der unverschuldeten Knechtschaft heraus¬zuführen. Gott zeigte seinem Volk eine große Vision: ein Leben in Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit in der Anbetung Gottes aus der Achtung seiner Gebote. Der Ex¬odus gelang. Doch die Zeit in der Wüste dehnte sich und die Entbehrungen waren groß. Nichts zu essen. Nichts zu trinken. Keine feste Bleibe. Keine Arbeit und kein Einkommen. Wirtschaftliche Not und Elend. Die Restauration siegt: zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens.

Führer stehen auf, die das Volk durch Versprechungen verführen. Sie nutzen die Abwesenheit Mose, der auf dem Berg Sinai Gottes Rechtsordnung und Verfassung für das Volk empfangen soll.  Der Ruf  wird lauter und lauter: „Schluss mit den De¬mütigungen. Schluss mit den Repressalien. Schluss mit den Realpolitikern, die uns durch Wüsten führen und Entbehrungen verlangen. Wir wollen Wohlstand jetzt. Wir wollen nationale Größe bald. Wir wollen ein Gottesbild, das unserer Bewegung ent¬spricht und einen Führer, der Brot und Arbeit bringt.“

Das Volk gerät in einen Rausch. Sie agieren als bewußtlose Masse und geben dem neuen Führer, der neuen Gottheit alles, was sie haben. Ein goldener Stier wird zur arteigenen Gottheit, das die Massen mit ‚Heil!‘ anhimmeln und mit Fackeln und Fah¬nen begrüßen. „Das ist Deine Gottheit, Israel“, rufen sie, „die dich aus Ägypten her¬aufgeführt hat!“ – zu nationaler Größe und zu mehr Lebensraum.

So vergisst das Volk, wer sein wahrer Retter und Heiland, sein guter Regent und Führer ist. Die Masse vergisst im Massenwahn seinen wahren Gott und tanzt um das goldene Kalb. Und Gott? Und Mose? Greifen sie ein? Beenden sie den unheimlichen Spuk und das größenwahnsinnige Treiben?

Gott fordert Mose auf, vom Berg hinabzusteigen, mitten unter sein Volk. Er soll die Verblendung des Volkes beenden. Gott benennt den Grund des bösen Treibens: „Sie haben die Ordnungen, die ich ihnen geben ließ, übertreten. Sie haben sich ein ge¬gossenes Stierbild gemacht, haben es angebetet und ihm geopfert. Sie sind mir un¬treu geworden.“ Bevor Mose den Auftrag ausfüh¬ren kann, packt  Gott die verletzte Leidenschaft eines Liebenden, dessen Geliebte untreu wurde und fremd geht. „Nein, Mose, halte dich heraus. Ich will meiner Wut freien Lauf lassen und sie vernichten.“ Den Krieg, den sie in ihrem Größenwahn und Rassenrausch angezettelt haben, wer¬den sie verlieren. Das unermessliche Blut, das sie vergießen, werden sie mit ihrem eigenen Blut büßen müssen.

Was tut Mose, der doch selber der von seinem Volk Gehörnte ist? Soll er sich als Vertreter einer gerechten Ordnung und des Rechtes der Menschen für dieses gott¬lose Volk einsetzen oder Gott Recht geben, dieses Volk zu vernichten?

Mose tut das Unerwartete. Er bemüht sich, Gott umzustimmen. Er erinnert Gott an seinen Bund, ein seine Treue zu diesem Volk. Gott soll an die Urvä¬ter und Urmütter denken und an sein Versprechen, sie und ihre Nachkommen zu ei¬nem Segen für alle Welt zu machen. „ Du, Gott,“, sagt Mose, „hattest eine große Vi¬sion. Die Urväter und Urmütter sollten die Keimzelle für Frieden und Gerechtigkeit, für das Recht des Men¬schen und für eine gerechte Ordnung unter allen Völkern werden. Aus ihrer Nach¬kommenschaft soll der Messias, der Christus her¬vorgehen. Das alles kannst Du nicht zunichte machen.“

Und Gott? Gott lässt sich umstimmen. Gott wendet sich, damit das Volk sich wenden kann: weg von den selbstermächtigten Führern und selbsternannten Götterbildern der Macht und Größe hin zu dem gerechten und menschenfreundlichen Gott der Liebe.

Es gibt Ereignisse in der Geschichte, die Geschichte machen. Sie müssen erinnert und erzählt werden – wie die Geschichte vom goldenen Kalb, von der Umkehr Gottes und dem mutigen Eintreten eines Mose. Es gibt Gestalten in unserer Geschichte, die solches wiederholen. Dazu gehört Alfred Delp, der am 15.9.1917 in Mannheim gebo¬ren wurde und am 2.Februar 1945 am Galgen in Plötzensee erhängt wurde. Wir fei¬ern seinen 100. Geburtstag und denken an ihn und seine Mitstreiter im Kreisauer Kreis und im Widerstand gegen den Massenwahn, gegen Menschenverachtung und Gottesfinsternis im 3. Reich. Wie Mose, wie Christus – ih¬nen nachfolgend – ist Delp auf den Berg der Gottesnähe und in die Wüste der Gottes¬ferne geführt worden. Er hat die Machenschaften der Verführer durchschaut und den Wahn des gleichge¬schalteten Massenmenschen entlarvt. Er hat den Götzen¬dienst des sog. ‚positiven Christentums‘ als Selbstvergottung des Heldenmenschen beschrieben. Er hat in der ‚Stimme der Zeit‘ und auf der Kanzel in München - Bogen¬hausen mutig das Wort er¬griffen und Gottes Gebot laut werden las¬sen. Er ist für die Ordnungen Gottes und das Recht des Menschen eingetreten. Er hat für eine gottbezogene Humanität ge¬stritten und für einen personalen Sozialismus gefochten. Er hat die Würde des Men¬schen reklamiert und Ehrfurcht vor dem Herrgott, wie er Gott nannte, gefordert. Er hat trotz aller Enttäuschung das Volk, zu dem er ge¬hörte, Deutschland, nicht abge¬schrieben. Für ein anderes Deutschland in einem friedlichen Europa hat er sich zu¬sammen mit Moltke und dem Kreisauer Kreis einge¬setzt. Sein Bekenntnis und seine Sendung war: „... der Mensch wird ge¬sund durch die Ordnung Gottes und in der Nähe Gottes....Die Ordnung Gottes her¬stellen und Gottes Nähe verkünden und leh¬ren und anderen bringen: das ist es, was mein Leben meint und will und dem es zu¬geschworen ist und bleibt.“ ( GW 4,176).

Alfred Delp hat am 9.und 10. Januar 1945 dem Vertreter des Bösen, dem Vorsitzen¬den des VGH Roland Freisler, offen ins Angesicht geblickt. Er hat dem Hass auf Kir¬che und Jesuitenorden standge¬halten und Gottes Wahrheit und des Menschen Frei¬heit verteidigt. Er hat an die Per¬sonalität und die Würde des Menschen gegen Gleichschaltung und Geringschätzung eines barbarischen Regimes geglaubt.

Pfr. Harald Poelchau, Gefängnispfarrer und Mitstreiter im Kreisauer Kreis gibt den Dialog Freisler – Delp am 9.1.1945 so wieder:

Freisler: „Sie Jämmerling, Sie pfäffisches Würstchen – und so was erdreistet sich, unserm geliebten Führer ans Leben zu wollen ... Eine Ratte – austreten, zertreten sollte man so was...Jetzt sagen Sie mal, was Sie als Priester dazu gebracht hat, die Kanzel zu verlassen und sich mit einem Umstürzler wie dem Grafen Moltke ...in die deutsche Politik einzumischen. Los, antworten Sie!“
Delp: „Ich kann predigen, soviel ich will ... Solange der Mensch menschenunwürdig und unmenschlich leben muss, solange wird der Durchschnitt den Verhältnissen er¬liegen und weder beten noch denken. Es braucht die gründliche Änderung der Zu¬stände des Lebens ...“
Freisler: „Wollen Sie damit sagen, dass der Staat geändert werden soll, damit Sie anfangen können, Zustände zu ändern, die das Volk aus den Kirchen fernhält?“
Delp: „Ja, das will ich damit sagen...“ (zit. Bleistein, Alfred Delp, S. 377f).

Der Nazirichter Freisler verkündet am 11. Januar ‚Im Namen des deutschen Volkes‘: „Delp: Tod, für immer ehrlos.“

Alfred Delp mußte noch 22 Tage warten, bis das Todesurteil durch Erhängen voll¬streckt wurde. Bewegend sind die Kassiber, die aus dem Gefängnis Tegel ge¬schmuggelt werden konnten. Sein Widerstehen angesichts des abgründigen Bösen hat ihm letzte Klarheit gebracht. Nach dem 11. Januar schreibt er: „ Denn jetzt bin ich ja erst Mensch geworden, innerlich frei und viel echter und wahrhafter, wirklicher als früher.“ ( GW 4, 107). Auge im Auge mit dem Abbild eines Abgottes wird ihm erneut bewußt, wer der wahre Gott ist und was der gerechte Gott will. Die ihn im Prozess begleitenden geweihten Hostien und die ihn stärkende Eucharistie geben ihm innere Kraft und Gelassenheit. „Die Geburtsstunde der menschlichen Freiheit ist die Stunde der Begegnung mit Gott.“, schreibt er zum Epiphaniasfest 1945 (GW 4, 217). Delp ist bereit, den Weg zum Galgen freiwillig und in Zustimmung zu Gott zu gehen. „Es sol¬len einmal andere besser und glücklicher leben dürfen, weil wir gestorben sind.“, schreibt er in einem langen Abschiedsbrief nach der Verurteilung am 11.1.1945 ( GW 4, 110). Die Freunde mögen sich darauf verlassen „...dass ich geopfert wurde, nicht erschlagen.“ ( GW 4,110). Dazu Worte, wie sie Mose für sein Volk Gott gegen¬über fand: „Behaltet dieses Volk lieb, das in seiner Seele so verlassen und so verra¬ten und so hilflos geworden ist. Und im Grunde so einsam und ratlos, trotz all der mar¬schierenden und deklamierenden Sicherheit. Wenn durch einen Menschen ein wenig mehr Liebe und Güte, ein wenig mehr Licht und Wahrheit in der Welt war, hat sein Leben einen Sinn gehabt.“ (GW 4, S. 111).
„ So lebt denn wohl. Mein Verbre¬chen ist, dass ich an Deutschland glaubte auch über eine mögliche Not – und Nacht¬stunde hinaus“, dass ich dem Aberglauben ‚NSDAP – Dritte Reich – Deutsches Volk leben gleich lang und sterben miteinander‘ wieder¬sprach, „und dass ich dies tat als katholischer Christ und als Jesuit.“ ( GW 4,S.112).

Alfred Delp ist im Gefängnis den Weg durch die Wüste gegangen und hat die Wüste bestanden. Zur Wüstenerfahrung gehört auch der Aufstieg auf die Berge Gottes. Es ist die Erfahrung, die Mose gemacht hat. Als er vom Berg Gottes hinabstieg und das Volk im Rausch um das goldene Kalb tanzen sah, entbrannte er vor Wut. Er zer¬schlug die beiden Gesetzestafeln, die allem Volk Gottes Ordnung zeigen. Mose ließ die Schuldigen betrafen. Dann stieg er wieder auf den Berg Gottes, um erneut Gottes neue Verfassung für ein Leben in Frieden, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit aufzu¬schreiben. Mose und das Volk hatte noch einen weiten Weg durch die Wüste vor sich. 40 Jahre lang, länger als die 12 Jahre des selbst ernannten tausendjährigen Reiches. Am Ende seines Lebens stieg Mose wieder auf einen Berg. Er schaute das, was er selber nicht betreten und erleben konnte: das Gelobte Land.

Für Alfred Delp erfüllt sich die Hoffnung auf Begnadigung und eine Befreiuung durch das Ende des Krieges nicht. Kurz vor seinem gewaltsamen Tod in Plötzensee sagt er dem Gefängnispfarrer Buchholz zum Abschied: „Ach, Herr Pfarrer, in einer halben Stunde weiß ich mehr als Sie.“ ( Bleistein, A.Delp, S. 408). Mit dieser Zuversicht und in dieser Sicht geht Alfred Delp zum Galgen, der ihm zum Berg der Verwandlung und Verklärung wird – wie einst Mose der Gottesberg Sinai, Elia der Berg Horeb und Je¬sus von Nazareth der Galgenberg. Sie werden zu Übergänge in Gottes Nähe – auch wenn Gott ferne scheint.

Es gibt Ereignisse in der Geschichte, die müssen erinnert und erzählt werden. Dazu gehört die Geschichte und das Geschick Alfred Delps, eines Streiters für die Huma¬nität des Menschen, eines Denkers für Solidarität und Gerechtigkeit in einer sozialen Wirtschaftsordnung und eines Bekenners der Güte und Nähe Gottes in einer Zeit der Gottesfinsternis. Seine Einsicht war tief und sein Erbe reicht weicht:
„Brot ist wichtig. Freiheit ist wichtiger, am wichtigsten aber die ungebrochene Treue und die unverratene Anbetung.“ ( zit. Bleistein, Begegnungen, S. 62).

Sein Ansporn gilt uns heute noch: „Nur der Anbetende, der Liebende, der nach Got¬tes Ordnung Lebende ist Mensch und ist frei und ist lebensfähig.“ ( Bleistein, Begeg¬nun¬gen S. 65 ). Sein Anspruch an uns heißt: „Wer nicht den Mut hat, Geschichte zu machen, wird ihr armes Ob¬jekt. Lasst uns tun.“ ( Bleistein, Begegnungen, S. 52). Es gibt Ereignisse in der Geschichte, die Geschichte schrei¬ben und Geschichte machen. Erkennen wir die Zeichen der Humanität und der Frei¬heit heute und verteidigen wir sie.