„Die Lage spitzt sich zu… -
Warum kein Weg mehr vorbeiführt
am Todesurteil.“
1. Einführung
Das Thema beschäftigt uns
zu Beginn der Passionszeit - eine Woche,
bevor am Palmsonntag die Karwoche beginnt.
In vielen Texten und Liedern zur Passion heißt es,
Jesus sei zur Sühne für unsere Sünden am Kreuz gestorben.
In einem der Passionslieder heißt es:
„Was ist doch wohl die Ursach solcher Plagen?
Ach, meine Sünden haben dich geschlagen.
Ich, mein Herr Jesu, habe dies verschuldet.“
Nicht wenige Christen tun sich schwer mit solchen Texten
und fragen sich, wie sie zu verstehen sind.

Ich möchte Sie heute einladen, mit mir gemeinsam
die letzten Tage Jesu vor Seiner Passion zu betrachten.
Bereits während Seines gesamten öffentlichen Wirkens
fühlten sich vor allem Pharisäer und Schriftgelehrte
immer wieder herausgefordert und angegriffen
durch die Botschaft Jesu in Wort und Tat.
Während der letzten Tage in Jerusalem jedoch
spitzte sich diese Auseinandersetzung
nicht nur mit Pharisäern und Schriftgelehrten,
sondern vor allem mit den Machteliten Israels insgesamt dermaßen zu,
daß sie schließlich Seinen Tod endgültig beschlossen
und Ihn zur Hinrichtung an die Römer auslieferten.

Eine Betrachtung gerade dieser ‚heißen Phase‘ vor der Passion Jesu
kann uns vielleicht helfen,
die Hintergründe von Leid und Tod Jesu besser zu verstehen,
und auch eine Antwort zu finden auf die Frage,
was dieses ganze Geschehen mit uns hat,
und inwiefern es da einen Zusammenhang gibt mit unserer Schuld.

Die letzten und für die Passion entscheidenden Tage Jesu
spielen sich in Jerusalem ab.
Seit den Tagen Davids und Salomons war Jerusalem als die Stadt Gottes
nicht nur der religiöse Mittelpunkt,
sondern auch das wirtschaftliche und politische Machtzentrum Israels.

1.    In einem ersten Schritt ist es hilfreich,
wenigstens einen kurzen Blick ‚hinter die Kulissen‘
dieses Zentrums zur Zeit Jesu zu werfen.

Während seiner Wüstenwanderung und dann bis zur Zeit König Davids
diente dem Volk Israel ein Zelt,
in dem die Bundeslade mit den Gesetzestafeln des Mose
aufbewahrt wurden,
als zentraler Ort der Begegnung mit Gott.
Nachdem David Jerusalem erobert
und zur Hauptstadt Israels gemacht hatte,
ließ er das Zeltheiligtum dorthin bringen.
Von da an ist Jerusalem die ‚Stadt Gottes‘,
aber auch die Stadt des Königs,
also religiöses wie auch politisches Zentrum.

David war ein ausgesprochen erfolgreicher Herrscher,
und je mehr seine Macht wuchs, um so mehr lag ihm daran,
das bescheidene Zelt der Wüstenwanderung
durch einen möglichst repräsentativen Tempel zu ersetzen –
als ein sichtbares Zeichen der Macht Jahwes
und nicht zuletzt auch Seines Königs.
Aus der Bibel wissen wir,
daß es zu Davids Lebzeiten nicht mehr zum Bau des Tempels kam,
daß der vielmehr erst durch seinen Sohn Salomon errichtet wurde.

Die Babylonier zerstörten diesen ersten Tempel;
Aber nach der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil
wurde ein zweiter Tempel errichtet,
der im Laufe der Jahrhundert mehrfach umgebaut, vergrößert
und auch militärisch befestigt wurde.
Seine endgültige und großartige Gestalt im griechischem Stil der Zeit
erhielt der Tempel schließlich durch Herodes den Großen (21 v.Chr.).
Diesen ‚herodianischen‘ Tempel erlebte Jesus.

Die Pracht dieses Tempels wurde
(nicht nur) von den Jüngern Jesu bewundert:
„Meister, sieh, was für Steine und was für Bauten!“ (Mk. 13, 1)
Diese Pracht dokumentiert, wieviel Macht sich dort konzentrierte -
auch noch unter der römischen Besatzung.
Da ist zunächst die Bedeutung und der Einfluß der Religion zu nennen.
Sie bestimmte weitgehend das Sinnverständnis in der Gesellschaft
und das konkrete Verhalten der Menschen
durch den Tempelkult, für den die Priester zuständig waren,
und durch die Auslegung der Thora, die vor allem ein Gesetzbuch war,
für dessen Auslegung die Schriftgelehrten eine Art Monopol hatten.
An der Spitze stand der Hohepriester,
bei dem alle Machtfunktionen zusammenliefen.
Er war gewiß zunächst und vor allem religiöser Würdenträger,
spielte darüber hinaus aber auch ganz zentrale Rolle
in Wirtschaft und Politik.

Daß Religion und Politik auf’s engste miteinander verknüpft waren,
das war in der damaligen Welt üblich und selbstverständlich,
und ist es vielfach ja auch heute noch
(vor allem in islamischen Ländern, etwa dem Iran).
Die wirtschaftliche Macht, die im Tempel konzentriert war,
ergab sich vor allem aus den Tempelabgaben,
von denen die Tempelsteuer, die auch Jesus zahlen mußte (>Mt. 17,24),
nur eine war.
Dadurch hatte sich im Laufe der Zeit
ein ansehnlicher Tempelschatz gebildet.
Da der Tempel in seiner Heiligkeit und Massivität auch sehr sicher war,
benutzten ihn reiche Bürger zudem als Depot für ihre Wertsachen.
So wurde er mehr und mehr zu einer Art Zentralbank,
die auch Geldgeschäfte / Geldwechselgeschäfte machte.
Außerdem war der Tempel der größte Arbeitgeber
und zugleich der größte Auftraggeber (z.B. für die Bauwirtschaft).

Konkret wurde die Macht unter der Oberhoheit des Hohenpriesters ausgeübt von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen:

Da waren die Sadduzäer, die sich aus der Priesteraristokratie
und aus dem Großbürgertum rekrutierte. 
Sie hatten zum einen enormen wirtschaftlichen Einfluß,
zum anderen kontrollierten sie die richterliche Gewalt.
Sie kollaborierten mit den Römern.

Eine zweite Gruppe waren die Pharisäer,
die sich stark an religiösen Vorschriften orientierte.
Aus ihren Reihen kamen mehr und mehr die Schriftgelehrten,
durch die sie - wegen deren Auslegungshoheit der Thora -
zusätzlichen Einfluß gewannen.
Die Pharisäer waren zudem -wir würden heute sagen -
nationalistisch gesinnt
und dementsprechend gegen die Römer eingestellt.
Einen bewaffneten Kampf gegen die Römer lehnten sie allerdings ab:
Man könnte sie eine ‚Volkspartei des passiven Widerstandes‘ nennen.

Genannt seien noch die Zeloten und die Herodianer.
Die Zeloten waren eine nationalistische Widerstandgruppe,
den Steuerboykott praktizierten
und auch eine Art Guerillakampf gegen die Römer führten.
(Die beiden ‚Schächer‘ am Kreuz stammten wohl aus ihren Reihen
und Judas stand ihnen vermutlich nahe.)
Die Herodianer waren eine eher kleine Splittergruppe
aus Beamten und Gefolgschaftsleuten im Dienste des Herodes.
Sie waren progriechisch und prorömisch eingestellt.

Schließlich sollten wir nicht die Masse der Armen vergessen:
Tagelöhner, Sklaven, Arbeitslose, Bettler, Krüppel, Witwen, Waisen…

Sie alle tummelten sich in Jerusalem und machten die Stadt
und zumal den Tempel zu einer Art ‚Haifischbecken‘,
in das sich Jesus hineinbegibt bei Seinem Einzug in Jerusalem.

2.    Bei der Betrachtung der letzten Tage Jesu in dieser Stadt
orientieren wir uns am Markusevangelium.
Markus versteht die Zeit des öffentlichen Wirkens Jesu
als Weg von Galiläa nach Jerusalem
und schildert die Ereignisse dort nach Tagen strukturiert:

Die letzten Tage Jesu in Jerusalem
(nach dem Markusevangelium: 11, 1 – 15, 47)

11, 1 – 6        Vorbereitung des Einzugs in Jerusalem
            (mit der Ortsangabe Betanien, das für die nächsten Tage zum ‚Stützpunkt‘ werden wird)

11, 7 – 14, 11    Das erste Triduum zu Jerusalem: Drei Tage mit Jesus im Tempel.

    Der erste Tag:    11, 7 – 11 a    Einzug in die Stadt und in den Tempel auf einem jungen Esel

                11, 11 bc    Rückkehr nach Betanien (und Übernachtung dort)

    Der zweite Tag:    11, 12 – 14    Auf dem Weg wieder nach Jerusalem:
                        Ein Feigenbaum, der nichts bietet

                11, 15 – 18    Ein Tempel, der keiner mehr ist (Tempelreinigung)

                11, 19        Rückkehr nach Betanien (und Übernachtung dort)

    Der dritte Tag:    11, 20 – 25    Wieder auf dem Weg nach Jerusalem:
                        Was der verdorrte Feigenbaum lehrt:
                        Die Kraft von Glauben und Gebet

                11, 27 – 33    Die Frage nach der Vollmacht Jesu
                        wird für die Fragenden zum Bumerang

                12, 1 – 12    Das Weinberggleichnis: Wem gehört was?

                12, 13 – 17    Die Steuerfrage: Wer andern eine Grube gräbt…

                12, 18 – 27    Die Frage nach der Auferstehung:
                        Wer falsche Fragen stellt, versteht die richtige Antwort nicht.

                12, 28 – 34    Die Frage nach dem wichtigsten Gebot:
                        Das Grundgesetz des Reiches Gottes: Liebe

                12, 35 – 37     Die Frage nach dem Messias – eine Klarstellung

                12, 38 – 44    Schriftgelehrte und Opferkästen:
                        Eine gefräßige Einrichtung

                13, 1 – 2    Beeindruckende Steine, beeindruckende Bauten:
                        Was groß ist, bleibt nicht groß, und was klein ist, nicht klein.

                Jesus verläßt den Tempel und die Stadt und zeigt offen seine Antiposition, indem er sich auf   
               den Ölberg, dem Tempelberg gegenüber, setzt.

                13, 3 – 37    Jesus belehrt seine Jünger über den Untergang Jerusalems
                        und über das Ende der Welt

                Was dann noch an diesem dritten Tag geschah:

                14, 1 – 2    Der Beschluß des Hohen Rates,
                        Jesus endgültig zu liquidieren.

                14, 3 – 9    Die Salbung in Betanien

                14, 10 – 11    Judas spricht seinen Verrat mit den Hohenpriestern ab.
                        Damit geht der dritte Tag zu Ende.


14, 12 – 15, 47    Das zweite Triduum zu Jerusalem: Das Leiden Jesu.

            Diese drei Tage unterscheiden sich von den vorausgehenden wesentlich:

1)    Der erste und der zweite Tag gehen ineinander über, denn die Nacht nach dem Abendmahl führt in ihren Handlungen den Prozeß bis zur Hinrichtung weiter, und der Tag der Hinrichtung endet ‚unnatürlich‘ schon am Mittag mit der Sonnenfinsternis und nicht am Abend mit dem Sonnenuntergang. Der dritte Tag, der Sabbat, wird stillschweigend übergangen. Nur rückblickend vom ‚Tag danach‘ (16, 1a) gewahrt man ihn.
           
2)    Vor allem aber ist entscheidend: In diesen drei Tagen ist Jesus nicht mehr Subjekt, sondern Objekt; er handelt nicht mehr, sondern über ihn wird verhandelt; er geht nicht mehr, sondern er wird geführt, getrieben, getragen, lebendig und dann tot. So endet das zweite Triduum.

    Der erste Tag:    14, 12 – 16     Die Vorbereitung es Paschamahles
                14, 17 – 25    Das Mahl
                14, 26 – 31    Der Gang zum Ölberg
                14, 32 – 42    Das Gebet in Getsemani
                14, 43 – 52    Die Gefangennahme
                14, 53 – 65    Das Verhör vor dem Hohen Rat
                14. 66 – 72    Die Verleugnung durch Petrus

    Der zweite Tag:    15, 1 – 15    Die Verhandlung vor Pilatus
                15, 16 – 20a    Die Verspottung durch die Soldaten
                15, 20b – 32    Die Kreuzigung
                15, 33 – 41    Der Tod Jesu
                15, 42 – 47    Das Begräbnis Jesu

    Der dritte Tag:    Vom Sabbat berichtet das Markusevangelium nichts.
                Dies ist ein Tag der Stille: Grabesruhe.

16, 1 – 8        Eine neue Zeit beginnt


3.    Diese Einführung möchte ich nun abschließen
mit einem Blick auf den ersten Tag Jesu in Jerusalem.
Dieser erste Tag ist recht kurz:
Er wird bestimmt durch den Einzug Jesu in die Stadt.
Dieser Einzug allerdings ist sehr programmatisch
und kann von bestimmten Kreisen
als eine ‚Kriegserklärung‘ mißverstanden werden.

Jesus zieht auf einem Eselsfohlen in Jerusalem  ein.
Sehr bewußt knüpft Er damit an einen Text des Propheten Sacharja an:
    „Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem!
    Siehe, dein König kommt zu dir. Er ist gerecht und hilft;
    er ist demütig und reitet auf einem Esel,
    auf einem Fohlen, dem Jungen einer Eselin.
    Ich vernichte die Streitwagen aus Efraim
    und die Rosse aus Jerusalem, vernichtet wird der Kriegsbogen.
    Er verkündet für die Völker den Frieden;
    seine Herrschaft reicht von Meer zu Meer
    und vom Eufrat bis an die Enden der Erde.“ (Sach. 9, 9-10)

Ein Eselsfohlen steht in scharfem Kontrast zum Pferd.
Zu Pferd reiten Könige.
Zu Pferd ziehen sie mit ihrem Heer in den Krieg ziehen.
Die Jünger Jesu verstehen diesen Einzug sehr wohl
als den Einzug des ‚Messias‘ in ‚Seine‘ Stadt.
Allerdings verstehen sie immer noch nicht,
wie sehr sich der Messias, wie Jesus ihn versteht,
von ihren eigenen Messiaserwartungen unterscheidet.

Vermutlich haben sich dem Einzug Jesu
viele ‚kleine Leute‘ angeschlossen
und begrüßen nun jubelnd ‚ihren‘ Messias.
Sie erwarten - wie auch die Jünger Jesu -
die Wiederaufrichtung des davidischen Königshauses -
was natürlich gleichbedeutend ist
mit der Beseitigung der römischen Fremdherrschaft.
Mit dieser Erwartungshaltung rücken sie Jesus in die Nähe der Zeloten.
Darüber hinaus jedoch steht hinter der Erwartung der kleinen Leute
die Hoffnung auf Errettung
aus ihrem wirtschaftlichem und menschlichem Elend.

All diese Erwartungen heben sich deutlich ab von dem,
was Jesus selbst versucht hat, den Menschen und zumal Seinen Jüngern
nahezubringen durch Seine Botschaft vom Reich Gottes
und durch die vielen Gleichnisse dazu.
Dieser Kern Seiner Botschaft wurde damals und wird auch heute
von der Menge der Leute nicht verstanden.
Diese Botschaft von Gottes Reich unterscheidet sich vielleicht zu sehr
von den Vorstellungen, die wir Menschen uns in der Erwartung
einer beglückenden und menschlichen Zukunft dieser Welt machen.

Sodann fällt auf:
Jesus zieht in die Stadt ein
und ohne Aufenthalt unmittelbar in den Tempel.
Der Tempel ist offenbar von allem Anfang an
das Ziel Seines Lebensweges.
So spielt sich auch das Geschehen der nächsten Tage im Tempel ab.
Es wird um eine Auseinandersetzung gehen zwischen dem,
was der Tempel von seinem Wesen her eigentlich sein soll,
und dem, was Traditionen, Institutionen, Strukturen
und auch einzelne Personen aus ihm gemacht haben und noch machen.
 
An diesem ersten Abend heißt es nur ganz knapp in einem Nebensatz:
„Nachdem Er sich alles angesehen hatte,
ging Er spät am Abend mit den Zwölf nach Betanien hinaus.“

Schweigend sieht Jesus sich alles an.
Das klingt wie eine innere Sammlung für das Kommende,
wie eine Art ‚Vorspiel‘.
Dann aber verläßt Jesus mit den Seinen den Tempel und die Stadt:
Dort die Nacht zu verbringen,
ist unter den gegebenen Umständen zu gefährlich.
Deshalb wird Er heute und an den folgenden Abenden
nach Betanien ausweichen, um bei Freunden in Sicherheit zu sein.

Sechs Tage vor dem Osterfest
kam der Herr in die Stadt Jerusalem.
Da liefen Ihm Kinder entgegen
mit Palmzweigen in den Händen und riefen:
Hosanna in der Höhe!
Sei gepriesen, der du kommst als Heiland der Welt.
Ihr Tore, hebt euch nach oben,
hebt euch, ihr uralten Pforten;
denn es kommt der König der Herrlichkeit.
Wer ist der König der Herrlichkeit?
Der Herr der Heerscharen,
er ist der König der Herrlichkeit.
Hosanna in der Höhe!
Sei gepriesen, der du kommst als Heiland der Welt.

Lasset uns beten:
Allmächtiger, ewiger Gott,
mit den vielen Menschen am Stadttor von Jerusalem
huldigen heute auch wir unserem König Christus.
Mit Lobgesängen begleiten wir Ihn in Gedanken
auf dem Weg in Seine heilige Stadt,
in Deinen Tempel,
Vater unseres Herrn Jesus Christus und auch unser Vater.
Gib, daß wir durch Ihn zum himmlischen Jerusalem gelangen,
der mit Dir lebt und herrscht in alle Ewigkeit.
Amen.
(nach der Liturgie des Palmsonntags)

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Für den gesamten Vortragszyklus verarbeitete Literatur:

Kuno Füssel, „Drei Tage mit Jesus im Tempel“, edition liberación, Münster 1987
Kurt Martin, „Das Markus-Evangelium“, Jordan-Verlag, Zürich 1985