„Die Lage spitzt sich zu… -
Warum kein Weg mehr vorbeiführt
am Todesurteil.“
2. Der zweite Tag im Tempel:
    Ein Feigenbaum ohne Früchte und ein Tempel, der keiner mehr ist
1.    Bereits am Abend des ersten Tages in Jerusalem
war Jesus ‚schnurstracks‘ in den Tempel gegangen.
Um den Tempel, um ‚Gottes Haus‘ geht’s Ihm und darum,
was die Verantwortlichen des Gottesvolkes daraus gemacht haben.
Schweigend hatte Jesus sich am ersten Abend im Tempel umgesehen.
Und was Er da sah, hatte Ihn zutiefst erschüttert.

Nun macht Er sich am zweiten Tag morgens früh
wieder zum Tempel auf, um sich all dem zu stellen,
was in Seinen Augen regelrecht pervers war.
Auf dem Weg dorthin spielt sich folgendes ab:
    „Als sie am nächsten Tag Bethanien verließen, hatte er Hunger.
    Er sah von weitem einen Feigenbaum mit Blättern
    und ging hin, um nach Früchten zu suchen.
    Aber er fand an dem Baum nichts als Blätter;
    denn es war nicht die Zeit der Feigenernte. 
    Da sagte er zu ihm:
    In Ewigkeit soll niemand mehr eine Frucht von dir essen.
    Und seine Jünger hörten es.“ (Mk. 11, 12-14)

Diese Geschichte ist auf den ersten Blick mehr als merkwürdig.
Der Sinn dieser Geschichte wird verständlicher,
wenn wir eine zweite, frappierend ähnliche Geschichte hinzunehmen:
Bei einer anderen Gelegenheit erzählte Jesus folgendes Gleichnis:
    „Ein Mann hatte in seinem Weinberg einen Feigenbaum;
    und als er kam und nachsah, ob er Früchte trug, fand er keine.
    Da sagte er zu seinem Weingärtner:
    Jetzt komme ich schon drei Jahre und sehe nach,
    ob dieser Feigenbaum Früchte trägt, und finde nichts. Hau ihn um!
    Was soll er weiter dem Boden seine Kraft nehmen?
    Der Weingärtner erwiderte: Herr, laß ihn dieses Jahr noch stehen;
    ich will den Boden um ihn herum aufgraben und düngen.
    Vielleicht trägt er doch noch Früchte;
    wenn nicht, dann laß ihn umhauen.“ (Lk. 13, 6-9)

In diesem Gleichnis geht es um das Volk Gottes.
Um Sein Volk hatte Gott sich immer und immer wieder bemüht
und viele Propheten zu ihm gesandt – ohne Erfolg: keine ‚Früchte‘!
Immer und immer wieder hatte Er sich bewegen lassen,
barmherzig zu sein, zu vergeben, dem Volk eine neue Chance zu geben.
Vergeblich!

Und jetzt dieser Feigenbaum am Weg nach Jerusalem:
Viele Blätter, aber keine einzige Frucht!
Auch dieser Baum steht für Gottes Volk,
genauer: für diejenigen, die sich als Führer dieses Volkes verstehen,
die sich sogar anmaßen, selbst das wahre Gottes Volk zu sein.
Dieser Baum steht für das profitable System,
das diese selbsternannte ‚Elite‘
sich im Tempel und rund um den Tempel aufgebaut hat:
Ein System, das nur aus Gesetzen, Vorschriften
und wohlklingenden Worten besteht,
aber nicht die kleinste Frucht bringt.
In unserer Zeit, da mit ‚Blättern‘ auch Papierblätter gemeint sind,
könnte das Urteil Jesu auch lauten:
„Papier, Papier und nochmal Papier; aber nichts dahinter!“
Über dieses System, von dem Jesus jetzt schon weiß,
daß es Ihn, das ‚Wort Gottes selbst‘ vernichten will,
fällt Er an diesem Morgen auf dem Weg nach Jerusalem
Sein Urteil, das wie ein Fluch klingt:
„In Ewigkeit soll niemand mehr eine Frucht von dir essen.“

2.    Dieser ganze Tag und auch der folgende dritte Tag
spielen sich nun im Tempel ab.
Alle Ereignisse und Begegnungen machen nachvollziehbar,
was Jesus mit Seinem Urteil über den Feigenbaum sagen wollte.
Gleich drei Berichte, die Markus über diese beiden Tage notiert hat,
haben es mit Geld zu tun und damit, daß Religion
zu einem System perverser Bereicherung verkommen ist.

An diesem zweiten Tag steht die ‚Tempelreinigung‘ im Mittelpunkt:
Jesus vertreibt die Geldwechsler und Händler
aus dem Vorhof des Tempels.
Mit dieser Aktion knüpft Jesus an eine alttestamentliche Tradition an:
Er vollzieht eine prophetische ‚Zeichenhandlung‘.
Indem Er die Verkäufer von Opfervieh hinaustreibt
und die Tische der ‚kleinen‘ Geldwechsler umstößt,
greift Er das ganze an Geld und Gewinn orientierte Tempelsystem an.
Denn diese ‚kleinen‘ Händler und Geldwechsler
hatten schließlich für ihr Geschäft enorm hohe Konzessionen bezahlt,
die einen nicht unwesentlichen Teil
der Geldgeschäfte der Tempelaristokratie ausmachten,
und die nicht zuletzt der privaten Bereicherung dienten.

Jesus hat also mit Seiner Aktion letztlich
die hohen Herren der Tempelbehörde im Visier
und wohl auch das ganze verkommene System dieses Tempels,
der eben kein ‚Gotteshaus‘ mehr ist,
sondern sich in den Dienst des Mammon gestellt hat
und zur ‚Räuberhöhle‘ geworden ist.
Verständlich, daß sich die Verantwortlichen
durch Jesus massiv bedroht sahen:
Es ging um ihre Tantiemen, um ihre Nebeneinkünfte, um ihr Geld.
Und beim Geld hört bekanntlich der Spaß auf.

Schon des öfteren hatten die Hohenpriester und Schriftgelehrten
darüber nachgedacht, wie sie diesen Jesus beseitigen könnten.
Nun aber hatte Er in ihren Augen den Bogen überspannt;
nun faßten sie definitiv den Beschluß, ihn umzubringen.

Natürlich stellt diese Geschichte auch uns vor Fragen:
Heute sind schließlich wir selbst Gottes Tempel -
die Kirche insgesamt, jede Gemeinde
und nicht zuletzt jeder von uns persönlich:
„Wißt ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid
und der Geist Gottes in euch wohnt?“ fragt Paulus
in seinem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth (1. Kor. 3, 16).

Auch in der Kirche heute geht es immer wieder um Geld und ‚Protz‘.
Gerade hat eine solche Geschichte in Limburg
die ganze Kirche in Verruf gebracht.
Und Papst Franziskus hat nicht ohne Grund
den Namen des ‚Poverello‘ von Assisi für sich gewählt.
Er spricht nicht nur von einer ‚armen Kirche‘,
sondern lebt das, was er verkündet, selbst.
Mit seinem Lebensstil setzt er ein glaubwürdiges Zeichen,
das weit über die Kirche hinaus wahrgenommen wird.
Offenkundig ist das nicht selbstverständlich!

Während Jesus sich aus dem Trubel,
den Er durch Seine Aktion ausgelöst hat,
klugerweise wieder nach Betanien zurückzieht
und sich mit Seinen Jüngern erst einmal in Sicherheit bringt,
könnten wir uns - jeder für sich - in einer Zeit der Stille
den Fragen stellen, vor die die ‚Tempelreinigung‘
uns ganz persönlich stellt.
Es sind Fragen, die uns gerade in der Fastenzeit umtreiben sollten:

Welche ‚Tische‘ müssen bei mir, bzw. in mir noch umgestürzt werden,
welche Dinge muß ich aus meinem Leben entfernen,
damit ich wieder zum Beten komme,
damit Gott wieder bei mir einziehen kann,
damit ich wieder zum ‚Tempel Gottes‘ werden kann?

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Für den gesamten Vortragszyklus verarbeitete Literatur:

Kuno Füssel, „Drei Tage mit Jesus im Tempel“, edition liberación, Münster 1987
Kurt Martin, „Das Markus-Evangelium“, Jordan-Verlag, Zürich 1985