„Die Lage spitzt sich zu… -
Warum kein Weg mehr vorbeiführt
am Todesurteil.“
5. Glauben und Gebet, sowie das wichtigste Gebot
Während Seines ganzen öffentlichen Lebens
ging es Jesus um das anbrechende Reich Gottes,
also um Gottes Zukunft: Die neue Erde und den neuen Himmel,
und damit den neuen Menschen.

Diese Kernbotschaft Jesu führt notwendigerweise zum Konflikt,
zum Konflikt mit der alten und vergehenden Welt -
und das nicht nur damals:
Denn die ‚alte und vergehende Welt‘ lehnt sich auch heute noch
und immer wieder gegen die Botschaft Jesu
und gegen das anbrechende Reich Gottes auf.

Damals, in den drei Tagen vor der Passion Jesu,
eskalierte dieser Konflikt:
Die vernichtende Kritik Jesu und Seine Provokationen in diesen Tagen
sind Ausdruck Seiner Erkenntnis,
daß der äußerlich so prachtvolle Tempel und alles, was er repräsentiert,
zugrunde gehen wird wie der unfruchtbare Feigenbaum -
auch wenn das zugrunde gehende System sich zuvor noch anmaßt,
über Ihm selbst das Todesurteil zu sprechen
und Ihn ans Kreuz zu bringen.

Dunkle Farben und Töne dominieren also während dieser Tage.
Dennoch steht Jesus fest im Vertrauen auf Seinen Vater,
in der Treue zu Seiner Sendung
und in der Zuversicht,
daß Gottes Reich sich gegen alle Widerstände durchsetzen wird.
Er ist sich sicher: Das bevorstehende Unheil
wird zum Heil ausschlagen.
Dieses Vertrauen klingt auch in diesen dunklen Tagen an -
zunächst in einem persönlichen Gespräch mit Seinen Jüngern.

Ausgerechnet angesichts des verdorrten Feigenbaumes
ermutigt Jesus Seine Jünger: „Ihr müßt Glauben an Gott haben!“
Er fährt fort mit einer Formulierung, die uns unfaßbar erscheint:
„Amen, das sage ich euch: Wenn jemand zu diesem Berg sagt:
Heb dich empor, und stürz dich ins Meer!,
und wenn er in seinem Herzen nicht zweifelt,
sondern glaubt, daß geschieht, was er sagt,
dann wird es geschehen.“ (Mk. 11, 23)
Natürlich spricht Jesus hier, wie so oft, in einem Bildwort.
Vordergründig hat Er vielleicht diesen protzigen Tempelberg im Sinn:
„Heb dich empor, und stürz dich ins Meer!“
Jedenfalls weiß Markus, der diese Worte niederschreibt, schon,
daß kurze Zeit später die Römer diesen Tempel einstürzen lassen.

Aber wir können auch an diesen dunklen Unheilsberg denken,
der sich vor Ihm selbst und auch vor Seinen Jüngern erhebt;
Dieser Berg, der am Karfreitag die Sonne
und scheinbar alle Zukunft verfinstern wird.
Und doch wird auch dieser Berg weichen müssen
und ins Ostermeer geworden werden,
das den Blick für neue Horizonte öffnet,
für die neue Erde und den neuen Himmel des Reiches Gottes.

Sodann sagt Jesus noch:
„Alles, worum ihr betet und bittet -
glaubt nur, daß ihr es schon erhalten habt,
dann wird es euch zuteil.“ (Mk. 11, 24)
Da denken viele von uns vielleicht: Schön wär’s!
Zu oft haben wir die Erfahrung gemacht,
daß unsere Gebete eben nicht erhört wurden.
Jesus selbst betet jedoch, wie Er es im ‚Vater unser‘ formuliert:
„Dein Wille geschehe wie im Himmel, so auch auf Erden!“
Er bittet darum, daß Gottes Pläne gelingen,
daß Er sich durchsetzt, daß Er alles gut macht,
und daß Er als Licht in unsere Finsternisse einbricht.

So betet Er noch am Ölberg:
„Abba, Vater, alles ist dir möglich.
Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will,
sondern was du willst (soll geschehen).“ (Mk. 14, 36)
Er weiß: Es kann uns nichts Besseres geschehen als Gottes Wille.
Für Ihn selbst ist es Gottes Wille und Sendung,
auf dieser Erde das Reich Gottes endgültig zu begründen.
Und diese Sendung verrät Er nicht - 
selbst wenn Er dadurch dem Kreuzestod entgehen könnte.

Sein bergeversetzender Glaube läßt Ihn vertrauen:
Sein Gebet ist schon erhört;
Gottes Zukunft setzt sich durch -
allem Anschein zum Trotz,
selbst wenn dieser Zukunft das Kreuz im Wege zu stehen scheint.
Wenn wir Christen also sagen, wir seien durch Jesu Kreuz ‚erlöst‘,
dann heißt das eigentlich:
Wir sind ‚erlöst‘ durch das bedingungslose Ja Jesu zu Seiner Sendung,
selbst wenn dieses ‚Ja‘ auch ‚Kreuz‘ bedeutet -
nicht weil der Vater das so will, sondern weil die ‚alte‘ Welt Ihn
in Ihrer Auflehnung gegen Gott ans Kreuz schlägt.
In diesem Sinne dürfen auch wir glauben,
daß wir schon erhalten haben, worum wir bitten,
noch bevor wir die Bitte ausgesprochen haben.
Wie Jesus beten, heißt:
Mit unseren Bitten nicht den eigenen Willen bei Gott durchzudrücken,
sondern in den Willen Gottes einzustimmen -
selbst wenn der uns zunächst ‚feindlich‘ zu sein scheint.

Noch in einem zweiten Gespräch dieser Tage klingt positiv an,
was für Jesus während Seines ganzen Lebens wichtig war,
und wofür Er auch jetzt gegen allen Widerstand einsteht:
Nach all den Fangfragen, denen Er sich Tempel stellen mußte,
fragt Ihn ein Schriftgelehrter nach dem wichtigsten Gebot.
Auch diese Frage ist wohl als eine Art Prüfungsfrage gestellt;
aber es ist eine offene Frage ohne Hinterhalt.
Jesus zitiert spontan das ‚Schma Israel‘, das ‚Höre Israel‘:
„Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. 
Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben
mit ganzem Herzen und ganzer Seele,
mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft.“ (Mk. 12, 29 f)
Damit erklärt Jesus einen wesentlichen Bestandteil
des täglichen Gebetes eines frommen Juden,
zur Leitlinie Seiner eigenen Verkündigung
und zum Grundgesetz des Reiches Gottes.
Da kann der Schriftgelehrte nicht widersprechen
und stimmt selbstverständlich zu.
Jesus fügt jedoch noch etwas hinzu - ebenfalls aus der Tradition Israels:
„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Gottesverehrung und soziales Denken und Handeln gehören zusammen!
Auch das ist für den Schriftgelehrten selbstverständlich.
Von sich aus fügt er dann sogar hinzu:
Gott zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst,
das ist „weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer“.
Auch die prophetische Opferkritik, die da drin steckt,
ist eingeschlossen, wenn Jesus dem Schriftgelehrten fast liebevoll sagt:
„Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“

Das Gespräch zwischen Jesus und diesem Schriftgelehrten
schenkt uns eine ganz wichtige Hilfe zum Verständnis der hl. Messe,
die wir jetzt miteinander feiern:
Es geht nicht um einen frommen Kult und um eine religiöse Tradition.
Wichtig sind vielmehr
der Ausdruck und die Vertiefung unserer Liebe zu Gott,
sowie immer wieder die Motivation zu einer aktiven Nächstenliebe
und deren Konkretisierung im Alltag.

In diesem Sinne bedeutet ‚Messe‘ wörtlich übersetzt ‚Sendung‘:
Geht hinaus in euren Alltag
und lebt das Grundgesetz des Gottesreiches,
das Doppelgebot der Liebe!

Amen.

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Für den gesamten Vortragszyklus verarbeitete Literatur:

Kuno Füssel, „Drei Tage mit Jesus im Tempel“, edition liberación, Münster 1987
Kurt Martin, „Das Markus-Evangelium“, Jordan-Verlag, Zürich 1985